ISSN 1613-8856

Vienna Institute of Demography

Langzeitfolgen der Schulschließungen

2023 | Jahrgang 20 | 1. Quartal

Keywords: Bildungshöhe, Pandemie, Schulschließungen, Ländervergleich

Wissenschaftliche Ansprechpartnerin: Anne Goujon

Erfolge oder Misserfolge in der Bildung messbar zu machen ist nicht trivial. Ein relativ einfach messbarer Faktor ist die „Menge an Schulbildung“, sprich wieviele Jahre Kinder in die Schule gegangen sind und welche Schulabschlüsse sie erlangt haben. Dieser Faktor wird meist genutzt, um die Bildungsstände der Bevölkerungen verschiedener Länder zu vergleichen. Was bei diesem Vergleich aber unter den Tisch fällt, ist die Qualität der Bildung. Dabei ist dieser Faktor extrem wichtig. Denn zwar bekommen weltweit immer mehr Kinder Zugang zu mehr Bildung, in Leistungssvergleichstests schneiden sie deswegen aber nicht unbedingt besser ab. Defizite in der Bildung wirken sich auf ein ganzes Menschenleben aus, weil sie in der Regel nach Beendigung der Schule nicht mehr aufgeholt werden. Während der COVID-19-Pandemie fiel die Schule vor allem in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen häufig besonders lange aus. Die Vermutung liegt also nahe, dass sich in diesen Ländern die Pandemie noch negativer auf die Bildung der Menschen auswirkt als in reichen Ländern.

Die Forscherinnen Dilek Yildiz, Claudia Reiter und Anne Goujon vom Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital (Österreich), sowie ihr Kollege Caner Özdemir von der Zonguldak Bülent Ecevit Universität (Türkei) haben sich angeschaut, wie sich Schulschließungen bei Kindern auf deren Bildungsniveau auswirken, wenn sie das erwerbstätige Alter erreicht haben. Für ihre Studie, die in dem Online-Fachmagazin „Plos One“ erschienen ist, nutzten die Forschenden einen neuen Indikator, der nicht nur die Länge der Schulzeit, sondern auch qualitative Faktoren, nämlich Grundfertigkeiten im Lesen und Schreiben berücksichtigt. Für 45 Länder haben sie projiziert, wie das Bildungsniveau in 2050 aussieht. In ihrer Analyse fokussierten sich die Forschenden auf die Altersspanne der 40- bis 44-Jährigen, weil sich in dieser Altersspanne diejenigen wiederfinden, die während der Pandemie 10 bis 14 Jahre alt waren und demnach am meisten von den Schulschließungen betroffen waren. Zudem geht man davon aus, dass in diesem Alter das höchste Bildungsniveau erreicht ist.

Auswirkungen der pandemiebedingten Schulschließungen auf das Bildungsniveau

Abb.1: Die Projektionen zeigen, dass sich die Zahl der Jahre, in denen Kinder im Schnitt eine Schule besuchen, über die Länder hinweg bis 2050 angleicht (graue Balken). Zieht man jedoch die qualitativen Faktoren mit hinzu, wird der Bildungsabstand zwischen den reicheren und den ärmeren Ländern größer, vor allem dann, wenn die Lerndefizite aus den pandemiebedingten Schulschließungen nicht aufgeholt werden. Quelle: Wittgenstein Centre (WIC) Human Capital Data Explorer, Programme for the International Assessment of Adult Competencies (PIAAC), Skills Measurement Programme (STEP), International Adult Literacy Survey (IALS), eigene Berechnungen.

Für ihre Untersuchung gingen die Forschenden von zwei Szenarien aus (s. Abb. 1), die zwei mögliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen in den untersuchten Ländern abbilden sollen. Beim optimistischen Szenario gehen die Forschenden davon aus, dass alle Länder die UN-Nachhaltigkeitsziele in der Bildung bis 2030 erreichen, bei einer gleichzeitig niedrigen Sterbe- und Geburtenrate. Beim pessimistischen Szenario stagniert die gesellschaftliche Entwicklung, soziale Ungleichheiten wachsen, Sterblichkeit und Fertilität  sind hoch. Diese Szenarien wurden einer „normalen“ Entwicklung gegenübergestellt, bei der sich die aktuelle Entwicklung des Landes gleichförmig bis 2050 fortsetzt. 

Die Projektion zeigt, dass der Bildungsabstand zwischen den Ländern des globalen Nordens und den Ländern des globalen Südens abnimmt, wenn man nur die Anzahl der Jahre betrachtet, in denen eine Schule besucht wird. Anders sieht es allerdings aus, wenn man den qualitativen Faktor hinzuzieht. Nimmt man an, dass die Nachhaltigkeitsziele erreicht werden (optimistisches Szenario), kommt man dann allenfalls zu dem Ergebnis, dass der Abstand nicht weiter zunimmt. Legt man aber das pessimistische Szenario zugrunde, bei dem ein Land sich wirtschaftlich und gesellschaftlich nicht weiterentwickelt, ist das Ergebnis verheerend: In diesem Fall nimmt der Bildungsabstand zwischen reichen und armen Ländern immens zu. Ganz besonders ausgeprägt ist diese Entwicklung, wenn es lange Schulschließungen gab.  Vergleicht man die Projektionen „ohne Schulschließungen“ und „mit Schulschließungen“ innerhalb eines Landes, kommt man auf Lernverluste von 1,5 Jahren und mehr für einige Länder, in denen die Schulen lange geschlossen waren, wie zum Beispiel Mexiko und Ecuador. In Ländern wie Peru, Polen oder die Türkei, die in den letzten Jahren ihr Schulwesen stark ausgebaut und infolgedessen bei den internationalen Leistungsvergleichstests immer bessere Ergebnisse erzielt haben, fällt das Bildungsniveau der Erwachsenen auf das Niveau von Kohorten zurück, die 15 bis 20 Jahre früher geboren wurden. 

Die Autor*innen der Studie zeigen sich besorgt: Die COVID-19-Pandemie könne jahrzehntelange Fortschritte zunichte machen, wenn nicht umgehend Maßnahmen getroffen werden, mit denen die Lerndefizite aufgeholt werden können. 

Literatur

  • Özdemir, C., C. Reiter, D. Yildiz and A. Goujon: Projections of adult skills and the effect of COVID-19. PLoS ONE 17(2022)11, e0277113.
    DOI: 10.1371/journal.pone.0277113

Aus Ausgabe 2023/1

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