In vielen europäischen Ländern sanken die Geburtenraten (Geburtenraten, gemessen durch die zusammengefassten Geburtenziffern, engl. „Total Fertility Rate (TFR)) zu Beginn der COVID-19-Pandemie massiv. Lediglich die meisten deutschsprachigen und nordischen Länder blieben von diesem Trend verschont. Damals machte man die sozialen Sicherungssysteme und die Kurzarbeit als Ursache dafür aus, dass sich die Menschen trotz Krise für Kinder entschieden. Nun hat sich aber das Blatt gewendet. Die monatliche Geburtenrate ist nach Ende der Pandemie deutlich gefallen und lag im Herbst 2023 nur noch bei 1,3 Kindern pro Frau in Deutschland und bei 1,4 Kindern pro Frau in Schweden. Für beide Länder bedeutet das einen Rückgang um gut 13 beziehungsweise 14 Prozent im Vergleich des Jahres 2023 zu 2021.
Geburtenraten in Schweden und Deutschland
Abb. 1: Geburtenraten in Schweden und in Deutschland seit Beginn der COVID-19-Pandemie. Eingezeichnet sind (mit neun Monaten Versatz) die Ereignisse, die einen potenziellen Einfluss auf die Geburtenraten hatten. Quelle: Bis 1/2023 Bujard & Andersson 2024, basierend auf: Statistisches Bundesamt, Statistics Sweden. 2/2023 bis 11/2023 für Schweden Statistics Sweden und für Deutschland eigene Berechnungen auf Basis vorläufiger Geburtenzahlen vom Statistischen Bundesamt und eigene Extrapolationen der Zahl von Müttern im gebärfähigen Alter.
Martin Bujard vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) hat gemeinsam mit seinem Kollegen Gunnar Andersson von der Universität Stockholm eine Analyse der monatlichen Geburtenraten vorgenommen und nach möglichen Zusammenhängen für den Rückgang gesucht. Ihre Ergebnisse wurden bereits im Januar im European Journal of Population veröffentlicht. Für diese Ausgabe der Demografischen Forschung aus Erster Hand haben sie die Daten bis November 2023 aktualisiert.
Die beiden Forscher untersuchten, wie sich die Geburtenraten Monat für Monat verändert hatten und schauten, ob es – mit einem Versatz von neun Monaten (Länge einer Schwangerschaft) – einen Bezug zu bestimmten Ereignissen gab, wie zum Beispiel zum Ergreifen von Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie oder dem Pandemieverlauf an sich. Die Forscher nennen vier Faktoren, die Zusammenhänge mit der Geburtenrate haben könnten und die sie für ihre Untersuchung in Betracht gezogen haben: Arbeitslosigkeit, Start der Impfkampagnen, Lockerung der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und die Corona-Inzidenz beziehungsweise Mortalität. Um deren Einfluss auf die Geburtenraten zu untersuchen, nutzten sie Daten zur COVID-19-Sterblichkeit, die Sieben-Tage-Inzidenz, Arbeitslosenzahlen, Daten zur Inanspruchnahme von Kurzarbeit in Deutschland, Daten zu den Impfkampagnen und den sogenannten Oxford Stringency Index, der die Intensität der Restriktionen im Lockdown misst.
Eine erhöhte Mortalität steht in keinem Zusammenhang mit den Geburtenraten, so ein Ergebnis der Forscher. Sowohl in Schweden als auch in Deutschland stiegen die Sterbefallzahlen zu zwei Zeitpunkten während der Pandemie deutlich an, nämlich im Frühjahr 2020 und im Winter 2020/21, wobei der erste Anstieg in Schweden deutlich ausgeprägter war als in Deutschland. Dieser Anstieg steht aber nicht mit weniger Entscheidungen für Kinder im Zusammenhang: Neun Monate nach den beiden Höchstständen gingen die Geburtenraten nicht runter. Tatsächlich ist eher das Gegenteil der Fall: Neun Monate bevor die Geburtenraten im Frühjahr 2022 begannen, massiv zu sinken, waren sowohl Mortalität als auch die Infektionsraten in beiden Ländern eher niedrig. Auch zwischen Arbeitslosigkeit und Geburtenraten zeigt sich kein Zusammenhang: In Deutschland nahm die Arbeitslosigkeit kurz nach Ausbruch der Pandemie leicht zu. Gleichzeitig waren mehr als sechs Millionen Menschen in Kurzarbeit, was erklären könnte, warum die Geburten damals in Deutschland nicht kurzfristig zurückgingen, wie in Südeuropa oder den USA, so die Forscher. Die Arbeitslosigkeit in Schweden war von Januar bis Juni 2021 am höchsten. Ein Rückgang der Geburtenraten neun Monate später war nicht zu beobachten.
Bemerkbar hingegen machten sich die Impfkampagnen und die Lockerungen der Lockdown-Regeln. Sowohl in Deutschland als auch in Schweden erreichten die Impfkampagnen mit Massenanmeldungen für Erstimpfungen im April, Mai und Juni 2021 ihren Höhepunkt, die meisten Zweitimpfungen wurden zwischen Juni und August desselben Jahres vorgenommen. Die Umsetzung dieser Kampagnen geht sowohl in Deutschland als auch in Schweden mit einem abrupten Rückgang der Geburtenraten neun Monate später einher. In Schweden geht dieser Rückgang vom einem höheren Ausgangsniveau aus, ist aber im Ausmaß vergleichbar gravierend. Diese Rückgänge sind den Forschern zufolge bemerkenswert, denn Deutschland und Schweden gehörten zu den wenigen Ländern, die im Verlauf der Pandemie selbst keinen Rückgang der Geburtenzahlen verzeichneten.
Die Lockerungen der Lockdown-Regeln, gemessen am Oxford Stringency Index, kommen gleichermaßen als Einflussfaktor infrage: Mit den steigenden Impfquoten (und den fallenden Geburtenraten) sank dieser Index ebenfalls.
Die Forscher interpretieren die postpandemische Veränderung des Geburtenverhaltens als Reaktion auf die Veränderungen der Lebensumstände nach der Pandemie. In manchen Fällen kann es zu direkten Auswirkungen des Impfprogramms als solches gekommen sein: Einige Paare könnten die Entscheidung, ein weiteres Kind zu bekommen, aufgeschoben haben, bis sie selbst geimpft sind. In Deutschland könnte zudem die fehlende Empfehlung der Impfung für Schwangere dazu geführt haben, dass einige Paare ihren Kinderwunsch aufgeschoben haben. Mit diesen Ergebnissen wäre auch denkbar gewesen, dass die Geburtenraten später wieder ansteigen, so die Forscher. Wenn die Aufhebung der Kontaktbeschränkungen und die anstehende Impfung die alleinigen Ursachen für den Geburtenrückgang gewesen wären, hätte sich der Trend wieder umkehren müssen. Das ist allerdings nicht der Fall. Bis November 2023, der Zeitraum, zu dem es die letzten verlässlichen Zahlen gibt, sind die monatlichen Geburtenraten in beiden Ländern auf einen langjährigen Tiefstand gefallen – in Schweden sogar auf einen historischen Tiefstand.
Laut den Wissenschaftlern gibt es mehrere mögliche Erklärungen für diese Entwicklung. Die Pandemie war für viele Familien eine schwierige Zeit. Die Eltern waren gestresst, da sie unter schwierigen Pandemiebedingungen Beruf und Familie vereinbaren mussten. Bei Kindern und Jugendlichen in europäischen Ländern kam es zu einem bemerkenswerten Anstieg von Depressionen und Angststörungen. Diese Erfahrungen könnten dazu beigetragen haben, dass die Geburtenrate gesunken ist. Außerdem könnten der Krieg in der Ukraine und die hohe Inflation zu Zukunftssorgen und einem zunehmenden Gefühl der Unsicherheit beitragen. Beide Faktoren könnten zu dem deutlichen Rückgang der Geburtenraten in den Jahren 2022 und 2023 beigetragen haben. Ob es sich primär um einen Aufschub der Geburten handelt (und die Geburtenraten bald wieder ansteigen) oder ob es längerfristig bei niedrigeren Geburtenraten bleibt, sei eine spannende Zukunftsfrage, so die Wissenschaftler.