Im Jahr 2001 ging in 15 Ländern, die zusammen mehr als die Hälfte (57 Prozent) der europäischen Bevölkerung ausmachen, die Fruchtbarkeitsrate im Durchschnitt auf unter 1,3 Kinder pro Frau zurück. Im Vergleich zu 1990, als noch kein Land in Europa eine derart niedrige Fruchtbarkeit aufwies, stellt dies die spektakuläre Ausdehnung eines Trends dar.
Langfristig könnten extrem niedrige Geburtenziffern eine nie dagewesene Überalterung der Bevölkerung mit sich bringen, das Funktionieren des Sozialversicherungs- und Wohlfahrtswesens gefährden und Veränderungen der Familienstrukturen hin zu Kinderlosigkeit bzw. Ein-Kind-Familie bewirken. Allerdings gibt es Gründe, die jüngsten Trends weniger dramatisch zu interpretieren: In keinem europäischen Land hat ein Frauen-Geburtsjahrgang bisher weniger als durchschnittlich 1,5 Kinder geboren, und es wird auch in absehbarer Zukunft keinen Jahrgang geben, der am Ende extrem niedrige Familiengrößen erzielt. Der scheinbare Widerspruch zwischen den Trends für einen Zeitraum (Periode) und für einen Jahrgang (Kohorte) entsteht, wenn sich das Alter ändert, in dem Frauen Kinder bekommen. In allen Ländern Europas verschieben Frauen seit einiger Zeit die Geburt ihrer Kinder in ein späteres Lebensalter: Frauen aus Italien, den Niederlanden, Spanien und Schweden werden derzeit erst mit 28 bis 29 Jahren Mutter, während das Durchschnittsalter bei der Erstgeburt in den 1970er-Jahren bei 24 bis 25 Jahren lag. Ein solcher Aufschub der Mutterschaft lässt die Geburtenziffern dieser Periode sinken. Die Diskrepanz zwischen Perioden- und Kohorten-Geburtenziffern kann Jahrzehnte anhalten, wie niederländische Daten zeigen (Abbildung 1).
Abb. 1: Fruchtbarkeits raten für die Niederlande in den Jahren 1972 bis 2002; Vergleich von Frauen der Geburtskohorten 1945 bis 1965.
Bevölkerungswissenschaftler leiten ab, wie stark das steigende Geburtsalter die Geburtenziffern beeinflusst, und sprechen vom „Tempoeffekt“. Obwohl nur unzureichende Schätzungen vorliegen, ist inzwischen klar, dass die extrem niedrigen Geburtenziffern in ganz Europa sich im Wesentlichen aus solchen Tempoeffekten erklären. Abbildung 2 stellt für verschiedene Regionen Europas die Fruchtbarkeitsraten für die Jahre 1995 bis 2000 dar und zeigt im Vergleich dazu die um den Tempoeffekt bereinigten Ziffern. In allen Ländern lag diese „korrigierte“ Fruchtbarkeitsrate in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre mit mehr als 1,4 Kindern pro Frau oberhalb der extrem niedrigen Werte.
Obwohl auch die „korrigierte“ Fruchtbarkeitsrate weiter unter dem Reproduktionsniveau bleibt (den zur Erneuerung der Generationen notwendigen 2,1 Kindern pro Frau), sind beträchtliche regionale Unterschiede zu verzeichnen: Die Länder West- und Nordeuropas weisen relativ hohe Fruchtbarkeitsraten auf; diese erhöhen sich auf 1,8 bis 2,0 Kinder pro Frau, wenn man den Tempoeffekt berücksichtigt. In allen übrigen Ländern Europas liegen die Geburtenraten erheblich darunter. Auch der Tempoeffekt ist hier unterschiedlich ausgeprägt; besonders stark wirkt er in Südeuropa sowie in den mittel- und osteuropäischen Staaten.
Die osteuropäischen Kernländer der früheren Sowjetunion (Weißrussland, Moldawien, Russland und die Ukraine) sowie Österreich, Deutschland und die Schweiz haben die niedrigsten „korrigierten“ Fruchtbarkeitsraten, gefolgt von den südeuropäischen Staaten. In den erstgenannten Regionen ist der geschätzte Tempoeffekt vergleichsweise gering. In Deutschland bestehen jedoch große Unterschiede zwischen den östlichen und westlichen Bundesländern. Ostdeutschland verzeichnete nach der Wiedervereinigung 1990 einen starken Aufschub des Alters bei der Erstgeburt,der zu einer Rekordtiefe der Fruchtbarkeitsrate beitrug (0,8 Kinder pro Frau 1992 bis 1995).
Abb. 2: Fruchtbarkeits raten mit und ohne Berücksichtigung des Tempoeffekts in den Regionen Europas von 1995 bis 2000. EU-15 bezieht sich auf die 15 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union vor Mai 2004; „EU-10 neu“ bezeichnet die zehn Länder, die der EU 2004 beitraten.
Für Europa hat die Berücksichtigung des Tempoeffekts von 1995 bis 2000 eine Erhöhung der Fruchtbarkeitsrate von 1,40 auf 1,63 Kinder pro Frau zur Folge. Für die Europäische Union (EU) steigt dieser Wert von 1,46 auf 1,71, ohne große Unterschiede zwischen den 15 EU-Mitgliedern vor der Erweiterung im Mai 2004 und den zehn Beitrittsländern. Die Differenz zwischen der gewöhnlichen Geburtenziffer und der Geburtenziffer exklusive Tempoeffekt mag zwar gering erscheinen; jedoch bedeutet dies eine beachtenswerte Veränderung des voraussichtlichen Bevölkerungsrückgangs, falls sich der Trend über längere Zeit hält: Eine Fruchtbarkeitsrate von nur 1,46 Kindern hat einen jährlichen Bevölkerungsschwund von 1,1 Prozent zur Folge, während dieser bei 1,71 Kindern pro Frau nur 0,6 Prozent betrüge.
Aus biologischen Gründen können Frauen eine (Erst-)Geburt nicht unbegrenzt in immer spätere Lebensalter aufschieben. Sobald der Trend zum Verschieben des Geburtsalters endet, dürften sich die Geburtenziffern wieder erhöhen. Obwohl ein weiterer Rückgang der Geburtenziffern nicht ausgeschlossen werden kann, scheinen die derzeit extrem niedrigen Werte nur ein vorübergehendes Ergebnis des gestiegenen Alters bei der ersten Mutterschaft zu sein. Jedoch ist klar, dass Unterschiede in den Geburtenziffern zwischen den europäischen Staaten in den nächsten Jahrzehnten bestehen. Zudem werden die Fruchtbarkeitsraten insgesamt wohl vorerst niedrig bleiben, da Frauen zwar ein erstes und zweites Kind in ein höheres Lebensalter verschieben können; eine dritte oder vierte Geburt aber wird selten noch realisiert.