Der demografische Wandel verändert die Gesellschaft tiefgreifend, indem er das Zahlenverhältnis von Jungen zu Alten und von Erwerbstätigen zu Rentnern verschiebt – zu Gunsten der älteren Personen und Rentner. Dass Prognosen mit Unsicherheiten behaftet sind, macht sie sich nicht weniger wichtig, denn Politikstrategen und Regierungsverantwortliche müssen sich darauf einstellen, wie sich das Altern der Gesellschaft auf die sozialen Sicherungssysteme und auf das ökonomische Wachstum auswirkt. Reformen müssen demografischen Veränderungen vorauseilen, um ihre Wirkung rechtzeitig entfalten zu können.
Die Sterblichkeit ist – neben Geburten und Migration – einer der Faktoren, die den demografischen Wandel beeinflussen. Sterblichkeitsprojektionen werden auf der Grundlage der Lebenserwartung bei Geburt berechnet; dies ist ein Maß für die durchschnittlich gelebten Jahre eines neugeborenen Kindes, das in jeder Lebensphase den altersspezifischen Sterblichkeitsraten von heute ausgesetzt wäre.
Seit 1840 hat die Lebenserwartung in den Industrieländern stetig zugenommen. In den Ländern mit der weltweit jeweils höchsten Lebenserwartung der Frauen zeigt sich in den zurückliegenden 160 Jahren ein Anstieg von fast drei zusätzlichen Lebensmonaten pro Jahr (Abb. 1). Stellten die Schwedinnen 1840 mit durchschnittlich 45 gelebten Jahren noch die Spitzengruppe, so erreichen heute die Japanerinnen mit 86 Jahren das höchste Lebensalter. Ein Zusammenspiel von steigendem Wohlstand, Bildung, gesunder Ernährung, humanen Arbeitsbedingungen mit geringerem körperlichen Ve rschleiß, verbesserter Hygiene, sozialer Fürsorge und medizinischer Versorgung ist Ursache für das längere Überleben. Die zu Grunde liegenden Mechanismen des Anstiegs sind vielfältig, komplex und selbst Veränderungen unterworfen. Das Ergebnis ist jedoch ein linearer Anstieg, der bis heute kein Zeichen einer Abflachung zeigt. Auch in Deutschland steigt seit Mitte der 1950er-Jahre die Lebenserwartung etwa parallel zur Linie der Rekordhalter.
Abb. 1: Lebenserwartung der Frauen in dem jeweils rekordhaltenden Land seit 1840 und in Deutschland.
Fällt die Analyse der Mechanismen schwer, die bisher die Lebensspanne verlängerten, ist es umso schwieriger, die Faktoren zu benennen, die künftig zum Anstieg der Lebenserwartung beitragen könnten. Man weiß nicht, welche medizinischen Durchbrüche zu Fortschritten bei Prävention, Diagnose und Behandlung von tödlichen Alterskrankheiten (Krebs, neurogenerative und Herz-Kreislauf-Erkrankungen) führen können. Noch sind bahnbrechende Innovationen aus Genom- und Stammzellforschung sowie der Nanotechnologie nicht bekannt. Doch auch vor 40 Jahren konnte man sich nicht vorstellen, dass die Chance, einen Herzinfarkt zu überleben, sich verfünffachen oder dass die Krebssterblichkeit sinken würde.
Diese Unsicherheit fördert Unterschätzungen: Immer wieder wurden maximale, biologisch unüberwindliche Grenzen der Lebenserwartung veröffentlicht, die wenig später von der Wirklichkeit überholt wurden. Immer wieder mussten Prognosen der Lebenserwartung nach oben korrigiert werden; und noch immer steigt die Lebenserwartung in den Ländern mit hohen Werten ungedrosselt. Eine Obergrenze der Lebenserwartung ist nicht in Sicht.
Solange aber keine tiefere Einsicht in die Mechanismen und Ursachen der steigenden Lebenserwartung besteht,können keine präzisen Annahmen für Vorhersagen gemacht werden. Daher werden Extrapolationen genutzt: Prognosen, die den linearen Trend der Entwicklung der Lebenserwartung aufnehmen, stützen sich auf Zeitreihenanalysen (Abb. 2). Diese greifen die Charakteristika der Zeitreihe bis heute auf und projizieren sie in die Zukunft. Je nach Herangehensweise (Random walk with drift oder Gap-Analyse) wäre in Deutschland im Jahr 2050 mit einer Lebenserwartung von deutlich über 90 Jahren zu rechnen (92,6±3,8 Jahre bzw. 94±2,8 Jahre). Demgegenüber schätzt das Statistische Bundesamt in seinem mittleren Szenario eine Lebenserwartung von 86,6 Jahren, Eurostat von 86,9 Jahren. Die Prognosen unterscheiden sich um bis zu sieben Jahre. Jedoch schon geringe Abweichungen in der prognostizierten Größe der Bevölkerung jenseits des Renteneintrittsalters haben enorme Auswirkungen auf die Sozialsysteme. Werden die Unsicherheiten in Form der 95%-Prognoseintervalle berücksichtigt, könnte sich die extrapolierte Lebenserwartung sogar in Richtung des weltweiten Spitzenreiters entwickeln. Von einem Verbleiben unter der 90-Jahre-Marke bis 2050 sollte nicht ausgegangen werden.
Abb. 2: Fortschreibung der Lebenserwartung (LE) bei Frauen in Deutschland (rot) und in rekordhaltenden Ländern (blau) bis 2050.
Jedoch ist die Zukunft ungewiss. Vieles könnte die Lebenserwartung unvorhersehbar senken, etwa Epidemien, Terroranschläge, Naturkatastrophen. Dennoch wären zu vorsichtige Prognosen gefährlich: Sie bereiten die Gesellschaft nicht auf die deutliche Zunahme an Hochbetagten vor, deren Versorgung, Betreuung und Pflege den Einzelnen und den Staat vor große menschliche und wirtschaftliche Herausforderungen stellen werden. Sie vernachlässigen, dass ein 65-Jähriger im Vergleich immer „jünger wird“ und dass das Zahlenverhältnis von Beitragszahlern zu Rentenbeziehern sich noch dramatischer gestalten könnte. Konservative Prognosen erlauben Politikern, zwingend notwendige, schmerzhafte Reformen der Sozialsysteme aufzuschieben.