Max-Planck-Institut für demografische Forschung

Mehr Kinder pro Frau in Ost- als in Westdeutschland

2007 | Jahrgang 4 | 2. Quartal

Keywords: Ost-West-Unterschiede, TFR, Familienpolitik, Krippenplätze

Dirk Konietzka und Michaela Kreyenfeld

Der Ausbau der Krippenbetreuung ist in Deutschland gegenwärtig ein umstrittenes familienpolitisches Thema. In der Auseinandersetzung geht es um unterschiedliche Aspekte, etwa um die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, vor allem für Mütter, um die stärkere Gleichberechtigung von Vätern und Müttern bei der Verteilung von Familien- und Erwerbsarbeit sowie um die Frage, ob eine Krippenbetreuung für Kinder unter drei Jahren förderlich oder schädlich sei. Nicht zuletzt wird der Einfluss der Krippenbetreuung auf die Geburtenrate kontrovers kommentiert. 

Die familiendemografische Forschung kann den Streit um Familienleitbilder und -werte nicht entscheiden. Sie kann jedoch die Grundlagen für eine sachliche Diskussion verbessern, zum Beispiel, indem sie darüber aufklärt, wie ein unsachgemäßer Umgang mit statistischen Daten und Indikatoren zu irreführenden Vorstellungen in der Öffentlichkeit über die demografische Realität in Deutschland führen kann. Solche Vorstellungen können durchaus folgenreich sein, wenn sie die Wahrnehmung der Realität und auf dieser Basis politische Entscheidungen beeinflussen. 

Zur Beschreibung der Geburtenentwicklung wird häufig die zusammengefasste Geburtenziffer eines Kalenderjahres (engl. total period fertility rate, folgend TFR) herangezogen. In Medien und Politik wird die TFR in der Regel verkürzt als Geburtenrate bezeichnet. Diese ist in Ostdeutschland nach 1990 stark gesunken und auch heute immer noch niedriger als in Westdeutschland. So betrug die TFR im Jahr 2005 im Westen 1,36 und im Osten 1,30. 

In der öffentlichen Diskussion wird jedoch kaum beachtet, dass die TFR ein sehr problematischer Indikator der Entwicklung des Geburtenniveaus ist. Es handelt es sich um eine hypothetische Kennziffer, die auf der Grundlage aller Geburten eines Kalenderjahres berechnet wird. Sie liefert nur dann eine gute Schätzung der Zahl der Kinder, die eine Frau im Laufe ihres Lebens bekommt, wenn das durchschnittliche Alter bei der Geburt von Kindern konstant bleibt. Diese Voraussetzung ist aber weder im Westen noch im Osten Deutschlands gegeben. In Westdeutschland steigt das Geburtenalter bereits seit mehr als drei Jahrzehnten kontinuierlich an, in Ostdeutschland erst seit 1990, seitdem aber umso rasanter. 

Aufgrund des anhaltenden Trends zu immer späteren Geburten fallen die Schätzungen zur endgültigen Kinderzahl, die auf der TFR beruhen, für beide Teile Deutschlands zu niedrig aus - im Osten gilt dies wegen der beschleunigten Dynamik seit dem vergangenen Jahrzehnt in verstärktem Ausmaß. Da das Messinstrument der TFR selbst von dem Wandel des Geburtenverhaltens beeinträchtigt wird, kann es diesen Wandel nicht adäquat beschreiben. Will man die Frage beantworten, ob das Geburtenniveau und das Versorgungsniveau mit Kinderbetreuungsplätzen in Ost- und Westdeutschland positiv oder negativ miteinander in Zusammenhang stehen, benötigt man Methoden, die das Geburtenniveau unverzerrt darstellen. 

Die einfachste und direkteste Methode ist der Vergleich der Anzahl der Kinder, die Frauen verschiedener Geburtsjahrgänge geboren haben. Die Zahl der Kinder, die eine Frau im Laufe ihres Lebens bekommt, kann man jedoch erst dann annäherungsweise feststellen, wenn sie 45 Jahre oder älter ist. Die heute 45-Jährigen haben im Westen 1,6 und im Osten 1,8 Kinder. Wie hoch die endgültige Kinderzahl der heute 25- oder 30-jährigen Frauen in Ost und West einmal sein wird, ob die Kinderzahl der jüngeren ostdeutschen Geburtsjahrgänge höher oder niedriger liegen wird als die der entsprechenden westdeutschen, das kann man dagegen heute noch nicht verlässlich vorhersagen. Es lässt sich aber eine „Zwischenbilanz“ der bisherigen Kinderzahl für die heute noch relativ jungen Frauen ziehen. 

Tab. 1: Durchschnittliche Zahl der tatsächlich geborenen Kinder pro Frau, nach Geburtsjahrgängen, bis zum Jahr 2005: Quelle: Statistisches Bundesamt; Anmerkung: Ab 2000 ohne Berlin. 

Eine solche Zwischenbilanz weist aus, dass die Kinderzahl pro Frau bei den Geburtsjahrgängen 1965 bis 1974 in Ostdeutschland bislang höher als in Westdeutschland liegt (siehe Tabelle 1), auch bei den jüngsten unter ihnen. Trotz der seit der Wende in Ostdeutschland geringeren jährlichen TFR ist also die Zahl der Kinder pro Frau in allen betrachteten Geburtsjahrgängen durchweg höher als in Westdeutschland geblieben. 

Eine wichtige Aufgabe der familiendemografischen Forschung besteht darin, empirische Sachverhalte differenziert und korrekt zu beschreiben. Dazu gehört die Feststellung, dass es bislang keinen ostdeutschen Geburtsjahrgang von Frauen gibt, der weniger Kinder geboren hat als der entsprechende westdeutsche. Die deutlich bessere Ausstattung mit Krippen- und Kindergartenplätzen in den neuen Bundesländern korrespondiert also mit einer höheren und nicht, wie regelmäßig behauptet wird, mit einer niedrigeren Kinderzahl pro Frau.

Literatur

  • Kreyenfeld, M. und D. Konietzka: Bleibt alles anders: Geburten- und Familienentwicklung in Ost und Westdeutschland. Demographischer Wandel: politische und gesellschaftliche Implikationen, N. Werz (Hrsg.). Nomos, Baden Baden 2007 [im Erscheinen].
  • Kreyenfeld, M. und D. Konietzka: Angleichung oder Verfestigung von Differenzen? Geburtenentwicklung und Familienformen in Ost- und Westdeutschland. Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock 2004, 36 S. (MPIDR working paper; WP- 2004-025).

Titelseite dieser Ausgabe

Aus Ausgabe 2007/2

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