ISSN 1613-8856

Max-Planck-Institut für demografische Forschung /Bundeswehruniversität München

Direkte Demografie

2007 | Jahrgang 4 | 3. Quartal

Keywords: Demografischer Wandel, Politische Machtverteilung, Bevölkerungswachstum und- rückgang, Europäische Union, Koalitionsbildung

Harald Wilkoszewski, Ursula Münch

Eine Analyse des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung und der Bundeswehruniversität München macht deutlich, wie sich in einer EU aus 27 oder – mit der Türkei – 28 Staaten zukünftig Gestaltungsmehrheiten immer schwieriger formieren können, während die Gefahr von Blockaden durch Zusammenschlüsse von Staaten steigen wird. Die Politik hat diese demografischen Veränderungen und ihre Auswirkungen auf die Machtbalance erstaunlicherweise lange Zeit viel zu wenig in Betracht gezogen und sich bei Verhandlungen über die Zukunft der EU weitgehend auf den Status Quo bezogen. 

Dies war auch unlängst beim Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs im Juni 2007 der Fall, von dem die Diskussion um die „Quadratwurzel“ in Erinnerung bleiben wird. Dahinter verbarg sich der schließlich gescheiterte Vorschlag der polnischen Staatsführung, für die Stimmgewichtung im EU-Ministerrat – dem wichtigsten Entscheidungsgremium der Union – nicht die Bevölkerungszahl eines Mitgliedstaates, sondern deren Quadratwurzel heranzuziehen. Im Ergebnis hätten mittelgroße Mitgliedstaaten wie Polen mehr Stimmgewicht erlangt. Jenseits politischer Taktik hat der Streit das Verhältnis von Demografie und Macht wieder stärker in die öffentliche Diskussion gebracht. 

Tab. 1: Die doppelte Mehrheit im EU-Ministerrat: Quelle: Eigene Darstellung.

Doch welchen Einfluss haben zukünftige demografische Entwicklungen auf die Machtverteilung im EU-Ministerrat? Etwa die Hälfte der Mitgliedsstaaten werden an Bevölkerung zulegen: Frankreich, Spanien, Großbritannien, die Niederlande, Belgien, Dänemark, Irland, Finnland, Zypern, Malta, Luxemburg, Österreich und Schweden, sowie in einer EU-28 in herausragendem Maße die Türkei. Die Bevölkerungen der anderen Hälfte werden schrumpfen, darunter vor allem jene in Mittel- und Osteuropa sowie in Deutschland, dem heute noch bevölkerungsstärksten Land der EU.

Demografische Aspekte haben bei der Machtverteilung im EU-Ministerrat ursprünglich nur eine nachrangige Rolle gespielt: Da Entscheidungen weitgehend einstimmig getroffen werden mussten, war die grob nach Bevölkerungsgröße abgestufte Stimmenverteilung von geringer Bedeutung. Als Folge der voranschreitenden europäischen Einigung und mit Blick auf die Handlungsfähigkeit des Ministerrates wurde jedoch die Repräsentanz der Bevölkerung auf EU-Ebene und damit die Stimmengewichtung wichtiger. Seit 1986 wird anstelle der Einstimmigkeitsregel vermehrt die so genannte qualifizierte Mehrheitsentscheidung genutzt. Auf dem Gipfel von Nizza im Jahr 2000 wurde eine Stimmenspreizung eingeführt, die den Staaten je nach Bevölkerungsgröße zwischen 3 und 29 Stimmen zuwies. Ein wichtiges Ergebnis dieses Treffens war die Einführung eines demografischen Faktors: Ist für einen Beschluss die qualifizierte Mehrheit erforderlich, kann ein Staat prüfen lassen, ob die Länder, die die qualifizierte Mehrheit bilden, auch mindestens 62 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung repräsentieren. Ist dies nicht der Fall, scheitert der Beschluss. 

Im Rahmen der Verhandlungen über eine Europäische Verfassung wurden die Abstimmungsregeln effizienter gemacht. Anstelle der komplizierten Stimmengewichtung tritt ab 2009 die doppelte Mehrheit: Mehrheitsbeschlüsse müssen von mehr als 55 Prozent der Mitgliedsstaaten („Staatenquorum“, 1 Staat = 1 Stimme) getroffen werden, die gleichzeitig mindestens 65 Prozent der europäischen Bevölkerung repräsentieren („Bevölkerungsquorum“). Um das Gewicht der bevölkerungsreichsten Mitgliedstaaten zu schwächen, wurde vereinbart, dass die Sperrminorität in Höhe von 35 Prozent der Unionsbevölkerung aus mindestens vier Ländern bestehen muss (siehe Tabelle 1). 

Tab. 2: Auswirkungen von Bevölkerungswachstum und -schrumpfung auf die Machtbalance in der EU – beispielhafte Staatenkoalitionen und ihre Möglichkeiten, Gestaltungsmehrheiten bzw. Sperrminoritäten zu bilden; die Gruppe der neuen Unionsmitglieder etwa verliert in der EU-27 selbst in Koalition mit sechs weiteren Staaten ihre Gestaltungsmehrheit aufgrund des Bevölkerungsrückgangs: Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der Bevölkerungsvorausschätzung der Vereinten Nationen (2006, mittlere Variante).

 

Somit hängt der Einfluss eines EU-Landes sowohl von seiner Bevölkerungsgröße als auch vom Verhältnis zu seinen potenziellen Mitstreitern ab. In der Vergangenheit haben sich Allianzen herausgebildet, die die Verhandlungsführung eines Staates beeinflussen. Die französisch-deutsche Zusammenarbeit etwa, die traditionell darauf ausgerichtet ist, die europäische Integration voranzutreiben, erweitert sich phasenweise um Großbritannien zur „Berliner Trilaterale“. Die Benelux-Staaten stimmten sich in den vergangenen Jahren häufig mit den skandinavischen Ländern ab, um so die Interessen der kleineren Staaten zu vertreten. Um Kürzungen bei den EU-Subventionen zu verhindern, entstand eine Allianz der südeuropäischen Staaten, während sich die Gruppe der Nettozahler formierte, um die Kostenentwicklung zu kontrollieren. 

Unsere auf Basis der neuesten Bevölkerungsvorausschätzung der Vereinten Nationen durchgeführte Analyse zeigt, dass aufgrund der neuen Abstimmungsregeln die Demografie die Machtbalance innerhalb der EU direkt beeinflusst. So wirkt sich der Bevölkerungsrückgang in den meisten neuen Unionsmitgliedern (Mittel- und Osteuropa, Malta, Zypern) besonders deutlich aus, wenn diese als europapolitische Koalition auftreten. In der EU-27 wird ihr Stimmenanteil 2009 noch bei knapp 21 Prozent liegen, fällt dann allmählich auf etwa 17 Prozent im Jahr 2050. Damit kann lediglich in vergrößerten und sehr heterogenen Koalitionen beispielsweise mit sechs weiteren Ländern (siehe Tabelle 2) eine Gestaltungsmehrheit zu Stande gebracht werden, die aber bereits ab 2010 verloren ginge. Wäre auch die Türkei in einer EU-28 als Beitrittsstaat vertreten, würde eine Gestaltungsmehrheit dauerhaft gesichert. Dies liegt am starken Wachstum der türkischen Bevölkerung: Im Jahr 2015 wird sie Deutschland als bevölkerungsreichstes Unionsmitglied mit über 82 Millionen Einwohnern abgelöst haben.

Neben der Türkei werden 13 weitere EU-Staaten mit einer wachsenden Bevölkerung rechnen können. Folgt man der Hypothese, dass schrumpfende Gesellschaften z.B. in der Bildungs- oder Sicherheitspolitik andere Schwerpunkte setzen als wachsende, dann könnte der demografische Wandel zwei neue Koalitionen innerhalb des europäischen Machtgefüges entstehen lassen – Wachstumsstaaten auf der einen Seite, Schrumpfstaaten auf der anderen. Eine Koalition der ersteren könnte durchgängig auf eine stabile Sperrminorität setzen und so Einfluss geltend machen. Durch einen Türkei-Beitritt würde dieser Einfluss noch größer, denn das Stimmengewicht der Koalition käme dann sogar der Marke von 65 Prozent sehr nahe. Mit nur drei weiteren, kleineren Staaten (etwa Griechenland, Tschechien, Portugal) könnten die Wachstumsstaaten so in einer EU-28 langfristig eine Gestaltungsmehrheit bilden. Ein Türkeibeitritt würde darüber hinaus die Machtverhältnisse zwischen Zahler- und Empfängerländern innerhalb der EU deutlich verändern. Während die Nettozahler in einer EU-27 ab 2010 einen ausreichenden Anteil an der Unionsbevölkerung repräsentieren, um gegebenenfalls eine Mehrheitsentscheidung zu verhindern, ist dies in der EU-28 nicht der Fall: Dann würde die Empfängerkoalition die Sperrminorität von 35 Prozent erlangen und die Geberkoalition diese verlieren. 

Alle analysierten Koalitionsformen in der EU-27 und in einer EU-28 zeigen: Es wird nur äußerst großen und heterogenen Staatengruppen gelingen, Gestaltungsmehrheiten zustande zu bringen, während Sperrminoritäten trotz des Bevölkerungsquorums von 35 Prozent relativ leicht zu formieren sind. Die Gefahr vermehrter Blockaden des europäischen Entscheidungsprozesses wird dadurch größer.

Literatur

  • Münch, U. und H. Wilkoszewski: Demografischer Wandel und Machtverteilung in Europa. Jahrbuch des Föderalismus: EZFF (Hrsg.). Nomos, Baden- Baden 2006: 533-551.

Titelseite dieser Ausgabe

Aus Ausgabe 2007/3

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