Es ist eine gewaltige Summe: 100 Milliarden US-Dollar wird die Staatengemeinschaft den ärmeren Ländern ab dem Jahr 2020 jedes Jahr zur Verfügung stellen, um die Folgen des Klimawandels abzumildern. Doch was genau mit diesen enormen Geldmitteln geschehen soll, ist noch nicht geklärt. Eine neue Studie von Wiener Demografen legt nahe, dass das Geld bestens in die Bildung von Frauen in Entwicklungsländern investiert wäre, weil sich dadurch die Anpassungsfähigkeit an den bereits unvermeidlichen Klimawandel erhöht.
Wenn die Gründe für die Anfälligkeit durch Naturkatastrophen wissenschaftlich analysiert wurden, war bisher meist das pro-Kopf-Einkommen eines Landes als zentraler Faktor benannt worden. Schließlich hat ein reiches Land unter anderem solidere Häuser, funktionierende Frühwarnsysteme, einen besseren Küstenschutz, größere Wasserreserven und ein professionelleres Rettungssystem. Doch Wolfgang Lutz, Erich Strießnig und Anthony G. Patt wollten es genauer wissen. In Modellen untersuchten die Wiener Forscher verschiedene Faktoren und ihren Einfluss auf die Zahl der Opfer bei Klimakatastrophen. Sie nutzten dafür die so genannte Emergency Events Data Base, die Extremereignisse immer dann erfasst, wenn eines von vier Kriterien zutrifft: zehn oder mehr Menschen wurden getötet, mindestens 100 Menschen sind betroffen, internationale Hilfe wurde angefordert oder der Ausnahmezustand verhängt.
Abb. 1: Bei den untersuchten Ländern (blaue Rauten), die durchschnittlich mehr als eine Naturkatastrophe pro Jahr verzeichnen, zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang (rote Linie) zwischen der Sterblichkeit bei Katastrophen (hier auf einer logarithmischen Skala angezeigt) und dem Anteil der 20-39-jährigen Frauen, die mindestens die untere Sekundarstufe besucht haben. Quelle: eigene Berechnungen, EM-DAT, Lutz, W., A. Goujon, S. K.C. and W. Sanderson: Reconstruction of populations by age, sex and level of educational attainment for 120 countries for 1970–2000. In: Vienna yearbook of population research 2007, W. Lutz (Ed.). Austrian Academy of Sciences Press, Vienna 2007, 193-235.
Bereits in früheren Untersuchungen konnte anhand dieser Daten gezeigt werden, dass Länder mit einem hohen „Index für menschliche Entwicklung“ (Human Development Index, HDI, vgl. Glossar) bei Naturkatastrophen im Schnitt viel weniger Opfer beklagen müssen. Dabei erfasst der Index nicht nur das Einkommen, sondern auch die durchschnittliche Lebenserwartung und das Bildungsniveau eines Landes.
Abb. 2: Zusammenhang zwischen Bildung und Anfälligkeit bei Naturkatastrophen in allen 125 untersuchten Ländern – unabhängig von der Zahl der Naturkatastrophen. Quelle: eigene Berechnungen, EM-DAT, Lutz et al. 2007.
Gerade letzteres, so vermuteten die Wiener Demografen, dürfte die Zahl der Opfer am stärksten beeinflussen. Schließlich sind gut gebildete Menschen besser über Vorhersagen informiert, sie stellen sich mehr auf Risiken ein beziehungsweise vermeiden diese, und sie verfügen über eine bessere Gesundheit sowie über ein höheres Einkommen. Lutz und seine Kollegen prüften daher, ob das Bildungsniveau eines Landes eine Auswirkung auf die Zahl der Opfer bei Naturkatastrophen hat (vgl. Abb. 1). Sie verwendeten dabei einen neuen Datensatz, den sie mittels demografischer Rück-Projektionsmethoden für fast alle Länder der Welt bis zum Jahr 1970 rekonstruiert hatten. Diese Daten geben die Bevölkerungsverteilung nach Bildungsniveaus in einem Land nach Alter und Geschlecht an. Als entscheidender Indikator wurde der Anteil der Frauen in der Altersgruppe 20-39 gewählt, die zumindest bis zum Alter von 15 Jahren eine Schule besucht hatten. Dieser Anteil, so die Autoren, sage oft mehr über die Situation eines Landes aus, weil die jungen Frauen zumeist für die Kindererziehung, die Gesundheit der Familie und Entscheidungen im Haushalt zuständig sind. Seltsamerweise aber steigt mit dem Anteil an gut ausgebildeten Frauen zunächst auch die Zahl der Katastrophenopfer leicht an, bevor sie, wie erwartet, deutlich abfällt (s. Abb. 2). Ein Phänomen, das sich auch bei der Studie zum Zusammenhang des Index für menschliche Entwicklung und der Zahl der Katastrophenopfer bereits zeigte. Die Wiener Demografen konnten nun nachweisen, dass dieser anfängliche Anstieg der Opferzahlen vermutlich ein statistisches Phänomen ist: Anstatt alle verfügbaren Daten von insgesamt 125 Ländern in die Analyse zu nehmen, wählten Lutz und seine Kollegen nur jene 63 Länder aus, die im Schnitt mindestens eine Katastrophe pro Jahr erlebten (s. Abb. 1), um extreme Ausreißer bei den Zahlen auszuschließen. Sowohl für den Index für menschliche Entwicklung als auch für den Anteil der gut ausgebildeten 20- bis 39- jährigen Frauen eines Landes zeigte sich unter diesen Bedingungen ein klarer Zusammenhang: Je höher der Anteil beziehungsweise der Index ist, desto weniger Opfer gab es bei den Naturkatastrophen. Um nun jedoch herauszufinden, ob tatsächlich das Bildungsniveau allein ausschlaggebend ist oder eine der anderen beiden Komponenten des HDI oder weitere nicht erfasste Faktoren eine Rolle spielen, haben die Wiener Demografen verschiedene Modelle durchgerechnet (vgl. Tab. 1). Dabei berücksichtigten sie, wie viele Katastrophen ein Land erlebte, wie hoch die Bevölkerungsdichte ist, ob es regionale Besonderheiten gibt und ob das jeweilige Land am Meer liegt, weil alle diese Faktoren einen Einfluss auf die Opferzahlen bei Katastrophen haben. Zudem wurden die Daten für die Zeit von 1980 bis 2010 in Dekaden zusammengefasst, um Extremwerte in einzelnen Jahren auszugleichen.
Tab. 1: Die Tabelle zeigt an, wie stark die Zahl der Katastrophenopfer steigt (positive Werte) oder sinkt (negative Werte), wenn die aufgeführten Faktoren (Katastrophenanzahl, Bevölkerungsdichte, Lebenserwartung etc.) um eine Einheit zunehmen. Quelle: eigene Berechnungen, HDI, EM-DAT, Lutz et al. 2007.
Das Resultat ist eindeutig: Je höher die Opferzahlen bei Naturkatastrophen sind, desto niedriger ist in dem betreffenden Land der Index für menschliche Entwicklung, wie Modell 1 zeigt. In den weiteren beiden Modellen aber wird sichtbar: Weder die Lebenserwartung noch das Einkommen in einem Land hat – anders als oft behauptet – einen nennenswerten Effekt auf die Höhe der Opferzahlen. Es ist allein die Bildungskomponente des HDI (Modell 2) beziehungsweise der Anteil gut ausgebildeter junger Frauen (Modell 3), die einen starken Zusammenhang zu den Opferzahlen aufweisen. Um den Einfluss anderer Faktoren, wie etwa den Zustand der Demokratie oder des Gesundheitssystem auszuschließen, haben Lutz und Kollegen in ihren Modellen auch die Kindersterblichkeit und einen Index für Demokratie berücksichtigt. Keiner der beiden Faktoren änderte jedoch etwas an ihrem Ergebnis: Bildung und im Besonderen Frauenbildung ist demnach der wichtigste soziale und ökonomische Faktor, der für die Reduzierung von Katastrophentoten von Bedeutung ist.
Was dieses Ergebnis für konkrete Regionen heißen kann, rechneten die Demografen am Beispiel von afrikanischen Staaten südlich der Sahara durch. Dabei gingen sie von zwei unterschiedlichen Szenarien aus: Im ersten Fall bleiben die Ausbildungsraten der Region auch in Zukunft auf dem gegenwärtigen Niveau (Constant Enrollment Rates, CER-Szenario). Im anderen Fall verbessert sich die Bildungssituation im gleichen Tempo, wie dies in anderen Ländern geschehen ist, die sich früher auf dem gleichen Niveau wie die afrikanischen Staaten befunden hatten (Global Education Trend, GET Szenario).
Lutz und seine Kollegen konnten zeigen, dass es für die zukünftigen Opferzahlen bei Naturkatastrophen von erheblicher Bedeutung ist, welchen Weg Subsahara-Afrika einschlägt: Im Falle der weiteren Verbesserung der Bildung wären die prognostizierten Opferzahlen für den Zeitraum 2045-50 bereits um 60 Prozent niedriger als unter dem konstanten Szenario.
Die weitere Verbesserung der Bildung in den ärmsten Ländern sollte daher auch zentraler Teil einer Strategie werden, welche die Anfälligkeit bei Klimakatastrophen reduziert und gleichzeitig die Anpassungsfähigkeit an den bereits unvermeidbaren Klimawandel stärkt, so die Autoren.