ISSN 1613-8856

Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels

Weniger Kinder unter Bismarck

2017 | Jahrgang 14 | 3. Quartal

Keywords: Historische Daten, Hypothese der sozialen Sicherheit, Umlagefinanzierte Rente, Fertilität, Öffentliche Rente

Mitautor der wissenschaftlichen Studie: Robert Fenge

Die größten Risiken im Leben lassen sich in drei Stichworten zusammenfassen: Krankheit, Unfall und Armut. Bevor es den Wohlfahrtsstaat gab, der zumindest die größten Härtefälle absichert, musste jeder Einzelne selbst für diese Risiken vorsorgen. Ein wichtiger Bestandteil dieser Vorsorge waren Kinder, die im Notfall finanzielle oder pflegerische Unterstützung leisten konnten. Das änderte sich teilweise, als Ende des 19. Jahrhunderts unter Bismarck ein erstes staatliches Sicherungssystem eingeführt wurde. Tatsächlich begann die Geburtenrate mit der Einführung der Rentenversicherung im Jahr 1891 beständig zu sinken. Zur Jahrhundertwende, als die Rentenversicherung noch einmal so modifiziert wurde, dass die aktuell arbeitende Generation für die Rentner aufkommen musste, beschleunigte sich dieser Rückgang noch einmal (S. Abb. 1). Robert Fenge vom Rostocker Zentrum zur Erforschung des demografischen Wandels und Beatrice Scheubel von der Europäischen Zentralbank gehen daher in einer neuen Studie der Frage nach, inwieweit die Einführung des Rentensystems dafür ursächlich war. 

Abb. 1: Änderungen im Sicherungssystsem und der Rückgang der Geburtenraten in den einzelnen deutschen Provinzen fallen oftmals zusammen. Quelle: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Jahresberichte Landesversicherungsanstalten, eigene Berechnungen

Grundsätzlich gibt es verschiedene Vorsorgemöglich­keiten für den Einzelnen: Er kann private Ersparnisse zurücklegen, auf familiäre Hilfe, vor allem durch Kinder, setzen oder auf eine gesetzliche Rente bauen, die im Alter ausgezahlt wird. Nach der Einführung der Rente im Jahr 1891 waren etwa 20 bis 25 Prozent der deutschen Bevölkerung pflichtversichert. Dadurch kommen zwei gegensätzliche Effekte zum Tragen: Zum einen wurden die Kosten, die ein Kind verursacht, durch die Einführung einer gesetzlichen Rente gemindert. Denn da der Lohn um den Rentenversicherungsbeitrag gekürzt wurde, war auch der Verlust kleiner, wenn wegen eines Kindes weniger ge­arbeitet wurde. Andererseits hätten die Rentenbeiträge bei einer freiwilligen Vorsorge ge­winnbringender angelegt wer­den können, so dass die Versicherung insgesamt wie eine Art Steuer wirkte. Diese reduzierte das Lebenseinkommen der Arbeiter insgesamt – der finanzielle und zeitliche Spielraum, um Kinder aufzuziehen, wurde dadurch kleiner. Beide Effekte und ihre Wirkungsrichtung analysierten Fenge und Scheubel mit Hilfe eines so genannten „Überlappenden-Generationen-Modells“, mit dem finanzielle Anreize auf verschiedene aufeinanderfolgende Generationen untersucht werden können. Dieses Modell überprüften die beiden Wissenschaftler dann mit einem empirischen Ansatz, um festzustellen zu können, welcher Effekt größer ist. Dazu wurden umfangreiche Daten zu der Anzahl ehelicher Geburten, dem Anteil rentenversicherter Arbeiter, der Höhe der Rentenbeiträge und der Höhe der ausgezahlten Renten verwendet. Weil sie diese Daten für 23 verschiedene Provinzen des damaligen Kaiserreichs haben, können sie unter anderem anhand regionaler Unterschiede den Effekt der Rentenversicherung gut herausfiltern (vgl. auch Abb. 2). Dabei zeigt sich, dass das neu eingeführte Rentensystem tatsächlich einen finanziellen Anreiz setzte, weniger Kinder zu bekommen: Steigt die Zahl der Rentenversicherten um einen Prozentpunkt, so prog­nostiziert das Modell einen Rückgang von immerhin 54 ehelichen Geburten pro 100.000 Einwohnern. Für die Zeit zwischen 1895 und 1907 sind etwa 15 Prozent des gesamten Geburtenrückgangs auf die Einführung der Rentenversicherung zurückzuführen. 

Abb. 2: Provinzen, in denen die Zahl der Rentenversicherten stark zunimmt, verzeichnen oftmals besonders starke Rückgänge bei der Geburtenrate. Quelle: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Jahresberichte Landesversicherungsanstalten, eigene Berechnungen.

In ihren Modellen berücksichtigen Fenge und Scheubel darüber hinaus weitere Faktoren, die ebenfalls die Geburtenrate beeinflussen könnten und rechnen diese heraus: Eine höhere Bildung, die zunehmende Ver­städterung, das kriegs­ oder migrationsbedingte Un­gleichgewicht von Männern und Frauen, die Einführung einer Krankenversicherung, ein höherer Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung etwa sind Beispiele für Faktoren, die den Rückgang der Geburtenrate eben­falls antreiben. Mit aller Vorsicht lassen sich hier auch Vergleiche ziehen: Demnach hat ein Anstieg der Renten­ versicherten um einen Prozentpunkt eine dreimal so hohe negative Auswirkung auf die Geburtenrate wie eine Zunahme des Ungleichgewichts zwischen Männern und Frauen um einen Prozentpunkt. 

In ihrer andauernden und ausgeweiteten Funktion wird die gesetzliche Rentenversicherung bis heute die Geburtenrate noch weitaus stärker beeinflusst haben, meinen die beiden Autoren. Der Einfluss der sozialen Sicherungssysteme auf das aktuelle Problem der Überalterung solle daher nicht unterschätzt werden. 

Literatur

  • Fenge, R. and B. Scheubel: Pensions and fertility: back to the roots. Journal of Population Economics 30(2017)1; 93­139.
    DOI: 10.1007/s00148­016­0608­x

Aus Ausgabe 2017/3

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