Zu Beginn der 1970er Jahre war die Welt bei den Geburtenraten noch weitestgehend zweigeteilt: Während in den Industrienationen durchschnittlich 2,15 Kinder pro Frau zur Welt kamen, war in den sogenannten Entwicklungsländern mit 5,42 Kinder pro Frau die Großfamilie noch die Norm. Doch in den letzten Jahrzehnten hat sich diese Lücke verkleinert, wie Tomáš Sobotka vom Vienna Institute of Demography in einer Studie darlegt. Zwar sanken die Geburtenraten in vielen Industrienationen noch bis weit unter das Bestandserhaltungslevel. Gleichzeitig aber gingen sie in vielen Entwicklungsländern noch stärker zurück. In so unterschiedlichen Staaten wie Südkorea, China und Brasilien fiel die Geburtenrate sogar von fünf bis sieben Kindern im Jahr 1960 auf unter zwei im Jahr 2010.
Nach den Industrienationen befinden sich also auch viele Entwicklungsländer nun im so genannten „Demografischen Übergang“. Dieses Modell erklärt die sinkenden Geburtenraten unter anderem mit einer gestiegenen Lebenserwartung, einem höheren Bildungsniveau, neuen Geschlechterrollen, modernen Methoden der Verhütung und dem Trend zur Individualisierung. Tomáš Sobotka geht in seiner Studie nun der Frage nach, wie die Fertilität in den Entwicklungsländern nach diesem Übergang aussehen wird und inwieweit die Erfahrungen aus den Industrienationen hier als Blaupause dienen können.
Als Schlüssel zum Verständnis der sehr niedrigen und wechselhaften Geburtenraten in den Industrieländern macht Sobotka vor allem den Aufschub der Familiengründung aus: Weil viele Frauen die Geburt des ersten Kindes in ein immer höheres Alter verschoben, sanken die Geburtenraten für längere Zeit stark ab und unterschieden sich deutlich von der bisherigen durchschnittlichen Familiengröße. So bekamen etwa Frauen in Österreich Mitte der 1970er Jahre ihr erstes Kind noch mit etwa 23 Jahren. Bis 2014 stieg das Alter bei der Erstgeburt um sechs Jahre an. Gleichzeitig fiel die zusammengefasste Geburtenrate von 1,94 Kindern auf 1,47 Kinder pro Frau. Gut die Hälfte dieses Rückgangs ist allein auf den Aufschub von Geburten in ein höheres Alter zurückzuführen. Ähnlich sah die Entwicklung in anderen Industrieländern aus. Dennoch zeigen sich in den einzelnen Ländern deutliche Unterschiede. Während etwa in Ostdeutschland in einigen Jahren statistisch weniger als ein Kind pro Frau zur Welt kam, rutschte die Geburtenrate in Frankreich kaum unter das Bestandserhaltungslevel von 2,1 Kindern pro Frau.
Abb. 1: In allen Ländern, die sich in der zweiten Phase des „Demografischen Übergangs“ befinden, sinkt die Geburtenrate zunächst sehr deutlich und erholt sich danach unterschiedlich schnell und stark. Dabei lassen sich verschiedene Entwicklungsmuster ausmachen. Quelle: Human Fertility Database, European Demographic Data Sheet, Eurostat (2015), eigene Berechnungen.
Tomáš Sobotka betont daher, dass es hinter dem allgemeinen Abwärtstrend eine sehr große Bandbreite von Fertilitätsleveln gibt. Grenzen nach unten, wie sie oft postuliert und ebenso oft gerissen wurden, gibt es keine. Gleichzeitig gibt es auch keine dauerhaften Tiefstände, die eine Erholung der Geburtenrate nicht mehr zulassen würden. Vielmehr zeigt die Entwicklung in den Industrieländern, dass Geburtenraten oft sehr unerwartet stark ansteigen oder fallen (s. Abb.1) und es deswegen zu unterschiedlichen Entwicklungsmustern kommen kann. Ähnliches erwartet Sobotka auch in den Entwicklungsländern: Weil sich auch hier ein genereller Trend zeigt, die Gründung der Familie immer weiter in ein höheres Alter zu verschieben, wird die Geburtenrate vermutlich ebenfalls für Jahrzehnte sinken – wenngleich diese Entwicklung auch hier unterschiedlich stark und schwankend ausfallen wird. Weil das kurzfristige Auf und Ab in den Geburtenraten oft irreführend ist, plädiert Sobotka dafür, den Tempo-Effekt, also den Aufschub der Geburten, aus den Zahlen herauszurechnen. So war etwa das Rekordtief in Ostdeutschland nur eine Momentaufnahme, die zu einem Zeitpunkt entstand, als ältere Frauen ihre Kinder bereits bekommen hatten und jüngere Frauen ihre Familiengründung in ein höheres Alter aufschoben. Das zeigt sich auch an einer anderen Zahl: der Kohortenfertilität. Dieses Maß erfasst, wie viele Kinder Frauen eines bestimmten Geburtsjahrganges bekommen haben: diese endgültige Kinderzahl lag auch in Ostdeutschland nie unter einem Kind pro Frau. Die Kohortenfertilität lässt sich zwar erst erheben, wenn Frauen des jeweiligen Geburtsjahrgangs ihr reproduktives Alter überschritten haben, dafür schwankt sie weit weniger stark und zeigt längerfristige Trends.