ISSN 1613-8856

Vienna Institute of Demography

Die große Lücke

2019 | Jahrgang 16 | 4. Quartal

Keywords: Kinderlosigkeit, Bildung, Europa, USA, Fruchtbarkeitsabsichten

Mitautorin der wissenschaftlichen Studie: Eva Beaujouan

In Frankreich etwa ist die Lücke relativ klein. Vergleicht man die durchschnittliche Anzahl der Kinder, die sich junge Französinnen in den 1990er Jahren im Alter von 20 bis 24 Jahren gewünscht hatten, mit der Anzahl der Kinder, die sie in späteren Jahren tatsächlich bekommen haben, so liegt der Unterschied bei 0,12 Kindern pro Frau (s. Abb. 1). In Spanien allerdings ist er mit 0,75 Kindern pro Frau gleich sechs Mal so groß. In Österreich (0,28) und Deutschland (0,3) ist er immerhin mehr als doppelt so groß. Um die Situation in den verschiedenen europäischen Ländern vergleichen zu können, haben Eva Beaujouan von der Wirtschaftsuniversität Wien und Caroline Berghammer vom Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Universität Wien eine sogenannte Kohortenstudie durchgeführt: Dafür wurden die Daten von über 12.500 Frauen ausgewertet, die in den 1990er-Jahren im Alter von 20 bis 29 Jahren für die „Fertility and Family Surveys“ der UN-Wirtschaftskommission nach ihrem Kinderwunsch befragt worden sind. Die beiden Demografinnen untersuchten zunächst, wie viele Kinder sich 20- bis 24-jährige Frauen im Schnitt wünschten und verglichen diese Zahlen mit den späteren tatsächlichen Geburtenraten. Die größten Unterschiede zwischen Wunsch und Realität gibt es demnach in Südeuropa. Während sich Frauen hier relativ viele Kinder wünschen, liegen die tatsächlichen Geburten deutlich unter dem europäischen Durchschnitt. In zentral- und osteuropäischen Ländern ist die Lücke dagegen größtenteils eher gering. Lediglich das wirtschaftlich angeschlagene Baltikum sowie Slowenien bilden hier eine Ausnahme. Deutschland und Österreich verzeichnen zwar sehr niedrige Geburtenraten für die untersuchten Jahrgänge, allerdings liegt hier auch der Kinderwunsch mit 1,8 und 1,95 Kindern pro Frau deutlich unter dem Durchschnitt. Insgesamt ergibt sich daher eine eher geringe Lücke – auch im Vergleich etwa mit Norwegen oder den Niederlanden. In diesen beiden Ländern fällt die Lücke vor allem deshalb relativ groß aus, weil mit 2,5 und 2,3 Kindern pro Frau die gewünschte Familiengröße besonders hoch ist. 

Durchschnittliche Anzahl der gewünschten Kinder (im Alter von 20-24 Jahren) und tatsächliche Anzahl der Kinder (im Alter von rund 40 Jahren)

 

Abb.1: Deutsche und österreichische Frauen wünschen sich im EU-Vergleich eher wenige Kinder. Daher ist die Lücke zwischen Wunsch und Realität hier auch geringer als bei Südeuropäerinnen, die eine ähnlich niedrige Geburtenrate haben sich aber in jungen Jahren eine deutlich größere Familie gewünscht haben. Quelle: Fertilitäts- und Familiensurveys sowie andere länderspezifische Studien, Human Fertility Database und Bevölkerungsstatistiken (für genauere Angaben s. Originalstudie)

Noch deutlicher sind regionale Muster in Europa bei gewollter und tatsächlicher Kinderlosigkeit: Während Frauen in Ost- und Zentraleuropa fast nie ein Leben ohne Kinder führen wollen und mit zehn bis zwölf Prozent auch einen eher geringen Anteil kinderloser Frauen verzeichnen, bleiben in Österreich und Deutschland sehr viel mehr Frauen ungewollt kinderlos. Obwohl nur etwa fünf Prozent der Befragten angaben, keine Kinder bekommen zu wollen, lag der tatsächliche Anteil kinderloser Frauen weit darüber: In Deutschland blieben 23 Prozent, in Österreich immerhin 20 Prozent der Frauen im Alter von etwa 40 Jahren ohne Kinder. Ähnlich hoch ist ihr Anteil nur noch in Italien (22 Prozent) und Spanien (21 Prozent). 

Ein Grund dafür liegt in der sehr verbreiteten Kinderlosigkeit der gut gebildeten Frauen, wie eine weitere Analyse zeigt. Dafür nahmen die beiden Demografinnen den Kinderwunsch von 25- bis 29-jährigen Frauen zum Ausgangspunkt und teilten die Befragten je nach Bildungsabschluss in drei verschiedene Gruppen ein. Dabei zeigte sich, dass in beinahe allen untersuchten Ländern die gut gebildeten Frauen weniger Kinder bekamen als die anderen beiden Bildungsgruppen. Gleichzeitig war ihre gewünschte Familiengröße nicht unbedingt geringer als die aller anderen Frauen. Auch unter den Kinderlosen war die Gruppe mit dem hohen Bildungsabschluss besonders stark vertreten. In Italien etwa blieben 30 Prozent der gut gebildeten Frauen ohne Nachwuchs. Nur in wenigen Ländern, wie der Tschechischen Republik, Norwegen, Ungarn und Belgien zeigte sich kein Zusammenhang zwischen hoher Bildung und Kinderlosigkeit. 

Um die Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit bei der Familiengründung zumindest zu verkleinern, sollten daher Akademikerinnen besonders unterstützt werden, schreiben die beiden Autorinnen, zum Beispiel durch ein gut ausgebautes Kinderbetreuungssystem, einkommensabhängiges Elterngeld sowie eine höhere Flexibilität von Arbeitszeiten und Arbeitsort für Mütter – und für Väter.

Literatur

  • Beaujouan, E. and C. Berghammer: The gap between lifetime fertility intentions and completed fertility in Europe and the United States: a cohort approach. Population Research and Policy Review 38(2019)4, 507- 535.
    DOI: 10.1007/s11113-019-09516-3

Titelseite dieser Ausgabe

Aus Ausgabe 2019/4

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