Man kennt die Bilder aus Norditalien und aus New York: Sind die Intensivstationen erst einmal überlastet, dann schnellen die COVID-19-Todesraten nach oben (s. auch Seite 5). Daher ist es wichtig, ausreichend Intensivbetten für Menschen mit schweren Verläufen frei zu halten. Doch abzuschätzen, ob und inwieweit – ökonomisch und sozial meist nachteilige – Präventionsmaßnahmen getroffen werden sollten, damit es nicht zur Überlastung der Intensivstationen kommt, ist nicht so einfach. Ein internationales Team um Sebastian Klüsener und Matthias Rosenbaum-Feldbrügge vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung hat ein Simulationsmodell entwickelt, das den Bedarf an Intensivbetten unter verschiedenen Szenarien abschätzt und dabei regionale Unterschiede berücksichtigt.
Wie viele Menschen auf die Intensivmedizin angewiesen sind, hängt von verschiedenen Faktoren ab: Neben Präventionsmaßnahmen wie der Verwendung von Schutzmasken, Schließung von Geschäften oder Schulen spielen auch die Jahreszeit, die Therapiemöglichkeiten oder die Altersstruktur der Infizierten eine Rolle. Anhand der aktuellen Entwicklung der regionalen Intensivbettenbelegung mit COVID-19-Erkrankten ermittelt das Modell die für den Intensivbettenbedarf relevanten regionalen Ansteckungsraten. Aufgrund von Präventionsmaßnahmen liegen diese Raten in der Regel unter dem vom Robert Koch-Institut bestimmten allgemeinen Reproduktionsfaktor R0. Dieser wird mit 3,5 beziffert und sagt damit aus, dass ein Infizierter im Schnitt 3,5 weitere Personen ansteckt.
Für die Vorhersagen werden die ermittelten Ansteckungsraten konstant gehalten oder unter der Annahme von Maßnahmenänderungen erhöht oder reduziert. Um darüber hinaus auch regionale Unterschiede adäquat abbilden zu können, werden aber nicht nur die aktuelle Pandemiedynamik, sondern auch die regionale Altersstruktur der Bevölkerung sowie wahrscheinliche weitere räumliche Verbreitungswege der Pandemie berücksichtigt.
Deutschland hat mit knapp 33 000 Intensivbetten eine vergleichsweise gute Versorgung. Allerdings sind 50-65 Prozent dieser Betten normalerweise durch Patientinnen und Patienten belegt, die nicht an COVID-19 leiden. Schon wenn 25-35 Prozent der Betten durch COVID-19-Erkrankte belegt sind, könnten Intensivstationen also an Kapazitätsgrenzen stoßen.
Um die Einsatzmöglichkeiten des Modells zu demonstrieren, werden für die Bundesländer Vorhersagen für drei verschiedene Stadien der Pandemie präsentiert. Erstens wird für den Beginn im Frühjahr 2020 untersucht, welchen Verlauf die Pandemie ohne Präventionsmaßnahmen genommen hätte. Die Simulation startet am 9. März und zeigt, dass alle Bundesländer innerhalb weniger Wochen kritische Belegungswerte von über 25 Prozent erreicht hätten. Insofern hätte eine ungebremste Pandemie schnell zu einer Überlastung der Intensivbettenkapazitäten geführt.
Im zweiten Fall startet die Vorhersage am 30. Juni 2020 in einer relativ ruhigen Phase der Pandemie. Die Forschenden rechnen hier mit zwei Szenarien: einmal wird die am letzten Beobachtungszeitpunkt gemessene Dynamik konstant gehalten, was in allen Bundesländern zu recht flachen Kurven beim Anteil der mit COVID-19-Erkrankten belegten Intensivbetten führt und im Wesentlichen den letztendlich beobachteten Verlauf widerspiegelt. Auch im zweiten Szenario, einer um 30% erhöhten Pandemiedynamik, werden in den meisten Bundesländern in den nächsten zwei Monaten nur geringe Anstiege vorhergesagt. Allgemein kann daraus schlussgefolgert werden, dass sich bei niedrigen Infektionszahlen selbst relativ hohe Ansteckungsraten nur sehr verzögert auf die Intensivbettenbelegung auswirken.
Regionale Auslastung der Intensivstationen bei unterschiedlichen Pandemie-Verläufen
Abb.1: Je nachdem, wie stark das Infektionsgeschehen gebremst werden kann, variiert der Bedarf an Intensivbetten deutlich. Die Reduktionen beziehen sich auf die im Modell ermittelte Infektionsdynamik. Quelle: Statistisches Bundesamt, Statistische Landesämter, BBSR, eigene Berechnungen.
Die dritte Vorhersage (s. Abb.1) startet in einer sehr dynamischen Phase am 2. November, als in Deutschland ein Teil-Lockdown begann. Ab diesem Zeitpunkt werden drei verschiedene Szenarien berechnet: Im ersten wird die ermittelte Infektionsdynamik konstant gehalten – ein Szenario, das bis Anfang Dezember in fast allen Bundesländern zu einer deutlichen Überlastung der Intensivstationen geführt hätte. Im zweiten Szenario wird das Infektionsgeschehen durch Präventionsmaßnahmen um 20 Prozent gebremst. Abgesehen von wenigen Bundesländern im Osten und im Norden stoßen die Intensivstationen auch bei diesem leicht gebremsten Infektionsgeschehen schon bald an ihre Belastungsgrenzen. Wenn das Infektionsgeschehen im dritten Szenario dagegen stark um 40 Prozent reduziert wird, sinkt die Zahl der Bundesländer, für welche eine Überlastung prognostiziert wird, erheblich. Die Simulationen verdeutlichen somit, dass es im Herbst 2020 ohne den eingeführten Teil-Lockdown sehr wahrscheinlich schnell zu einer Überlastung der Intensivbettenkapazitäten gekommen wäre.