Der Anteil kinderloser Frauen ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich angestiegen und lag im Jahr 2022 für die 1973 bis 1977 geborenen Frauen bei 20 Prozent. Deutschland gehört mit diesem Wert zu den Ländern mit der höchsten Kinderlosigkeit in Europa. In einem Übersichtsartikel, der in der Fachzeitschrift „Reproduktionsmedizinische Endokrinologie“ erschienen ist, haben die Wissenschaftlerinnen Anne-Kristin Kuhnt und Heike Trappe von der Universität Rostock einen Überblick zu Kinderlosigkeit und Inanspruchnahme von reproduktionsmedizinischer Assistenz unter demografischen Gesichtspunkten veröffentlicht, der hier in Kurzfassung wiedergegeben wird.
Kinderlosigkeit wird häufig pauschal als „ungewollt kinderlos“ kategorisiert, was dem komplexen Gesamtbild nicht gerecht wird. Der Anteil kinderloser Frauen und Männer sagt nichts darüber aus, ob die bestehende Kinderlosigkeit gewollt oder ungewollt ist. Der gestiegene Anteil Kinderloser im Zeitverlauf kann zum einen für eine höhere gesellschaftliche Akzeptanz eines Lebens ohne Kinder sprechen, sodass immer mehr Personen ihren kinderfreien Lebensentwurf umsetzen. Auf der anderen Seite kann Kinderlosigkeit ungewollt sein, wenn Frauen und Männer sich Kinder wünschen, aber dieser Wunsch nicht in Erfüllung geht. Den genauen Anteil ungewollt Kinderloser zu bestimmen, ist nicht trivial. Die Fruchtbarkeit von Männern und Frauen nimmt mit zunehmendem Alter ab und der Übergang zur Elternschaft ist in westlichen Gesellschaften voraussetzungsreich und verlangt zum Beispiel eine stabile Partnerschaft, die berufliche Etablierung und die finanzielle Absicherung. Entsprechend kann sich eine temporär gewollte Kinderlosigkeit im Lebensverlauf zu ungewollter dauerhafter Kinderlosigkeit entwickeln. Angesichts dieser Komplexität plädieren die Forscherinnen für eine Sensibilisierung für die Diversität von Personen mit unerfülltem Kinderwunsch, der sowohl Kinderlose als auch Eltern unterschiedlicher Altersstufen betreffen kann. Sinnvoller wäre es deshalb, so die Wissenschaftlerinnen, anstelle von Kinderlosigkeit von nicht realisierter Fertilität zu sprechen.
Entwicklung assistierter Reproduktion in Deutschland 1998–2020
Abb.1: Entwicklung der Nutzung assistierter Reproduktionstechnologien (ART) im Zeitverlauf. Der starke Anstieg und Rückgang im Zeitraum 2002 bis 2004 ist auf eine Gesetzesänderung zurückzuführen. Vor der Änderung wurden von den gesetzlichen Krankenversicherungen die Kosten von vier Behandlungszyklen übernommen, danach nur noch 50 Prozent der Kosten von drei Zyklen. Quelle: D·I·R- Jahrbücher 1999–2021, eigene Berechnungen
Um diese „nicht realisierte Fertilität“ genauer zu umreißen, haben sich die beiden Forscherinnen Daten zu reproduktionsmedizinischen Behandlungen angeschaut. Das Durchschnittsalter, in dem sich Frauen und Männer in reproduktionsmedizinischer Behandlung befinden, ist deutlich gestiegen und belief sich im Jahr 2021 bei Frauen auf 35,7 und bei Männern auf 38,6 Jahre. Seit Anfang der 2000er-Jahre steigen die ART-Behandlungszyklen, die Anzahl der behandelten Frauen und die Zahl der Lebendgeburten kontinuierlich an (siehe Abbildung 1). Außerdem sind mittlerweile fast drei Prozent aller lebendgeborenen Kinder mittels assistierter Reproduktion entstanden. Diese Entwicklung wird zum Teil als Konsequenz des höheren Alters bei der Familiengründung interpretiert. Andererseits wird unter Demograf*innen auch diskutiert, inwieweit die Verfügbarkeit medizinisch assistierter Reproduktion zunehmend als Bestandteil individueller Fertilitätspläne gesehen wird, die zu einer Verlagerung der Realisierung von Kinderwünschen in ein höheres Lebensalter beiträgt. Außerdem suchen eher ältere verheiratete Personen, die noch kinderlos sind, reproduktionsmedizinische Hilfe. Zudem verfügen diese Personen eher über einen höheren sozioökonomischen Status und seltener über einen Migrationshintergrund. Darüber hinaus nehmen Personen, die in ländlichen Regionen leben, seltener reproduktionsmedizinische Hilfe in Anspruch.
Angesichts dieser Fakten fordern die Forscherinnen, die aktuell für Deutschland bestehende soziale Selektivität im Zugang zu reproduktionsmedizinischen Verfahren zu reduzieren. Der Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung adressiere eine Vielfalt der Lebensformen und eine Stärkung der reproduktiven Selbstbestimmung. Die rechtlichen und finanziellen Gegebenheiten der reproduktionsmedizinischen Assistenz würden diesem Anspruch jedoch gegenwärtig nicht gerecht werden. Da der Zugang zu deren Nutzung insbesondere von sozioökonomischen Faktoren abhängt, wäre eine Regelung unabhängig vom Familienstand, vom Alter, von der sexuellen Orientierung und vom Elternschaftsstatus erforderlich.