Österreichische Akademie der Wissenschaften

Als ideal angesehene Kinderzahl sinkt unter zwei

2004 | Jahrgang 1 | 2. Quartal

Keywords: Kinderzahl, Geburtenrate, Familie

Wissenschaftliche Ansprechpartner*innen: Wolfgang Lutz, Nadja Milewski

In der Vergangenheit lag die persönlich als ideal angesehene Kinderzahl in fast allen Ländern Europas im Durchschnitt zwischen zwei und drei Kindern. Dieses Ideal war deutlich höher als die Zahl der tatsächlich geborenen Kinder. Diese Diskrepanz zwischen dem hohen registrierten Ideal und der Realität wird von Regierungen als ein Ansatzpunkt gesehen, durch Familien- bzw. Frauenpolitik den Paaren zu helfen, ihre höheren Kinderwünsche auch zu verwirklichen. Manche Demografen werteten den anhaltend hohen Kinderwunsch auch als Hinweis darauf, dass die Geburtenzahlen früher oder später wieder steigen würden. 

In der Stichprobenuntersuchung Eurobarometer, in der regelmäßig etwa 15.000 Personen in der Europäischen Union (EU) zu ihren Einstellungen befragt werden, ging es 2001 auch um Kinderwunsch und Kinderzahl. Frauen und Männer wurden danach gefragt, welche Kinderzahl sie für die Gesellschaft als ideal ansehen und welche ihrem persönlichen Ideal entspricht. Die Studie “The emergence of sub-replacement family size ideals in Europe” von Joshua Goldstein, Wolfgang Lutz und Maria Rita Testa zeigt, dass das persönliche Ideal in der Regel niedriger war als das gesellschaftliche Ideal. Die Befragten wünschen also, dass andere Menschen mehr Kinder haben sollen als sie selbst haben wollen. Somit sehen sie die Reproduktion als gesellschaftlich notwendig an, wollen sich selbst jedoch daran weniger beteiligen. 

Abb. 1: Individuell als ideal angesehene Kinderzahl pro Familie, nach Frauen, Mittelwerte, nach Altersgruppe und Land aufgeschlüsselt. In allen Ländern, die unterhalb der grauen Geraden liegen, halten Frauen unter 35 Jahren weniger Kinder für ideal als ältere Frauen.

Die Daten zeigen auch, dass die persönlich ideale Kinderzahl in Deutschland und Österreich besonders bei jüngeren Frauen auf deutlich unter zwei Kinder gesunken ist. Mit ihren niedrigen Idealvorstellungen sind Frauen im deutschen Sprachraum eine Ausnahme in Europa. Während Frauen aller Altersklassen in den meisten europäischen Ländern noch immer eine ideale Kinderzahl über zwei – also der Schwelle der Generationserneuerung – angeben, liegen die nationalen Durchschnittswerte in Österreich und in Deutschland klar unter diesem Niveau. Frauen der jüngeren Jahrgänge (im Alter von 20 bis 34 Jahren) wünschen sich hier durchschnittlich sogar nur 1,7 Kinder. 

Abbildung 1 stellt für alle 15 EU-Mitgliedsländer des Jahres 2001 die durchschnittliche persönliche Idealkinderzahl pro Familie dar, aufgeschlüsselt nach Alter. Zu sehen ist, dass der von jüngeren Frauen in fast ganz Europa angegebene Wert niedriger ist als der von älteren Frauen (Länder, die unterhalb der Diagonalen liegen). Es ist anzunehmen, dass die als persönlich ideal angesehene Kinderzahl  im Lauf des Lebens nicht systematisch steigt. Daher kann daraus geschlossen werden, dass der Kinderwunsch in den vergangenen Jahren abgenommen hat, d.h. dass Frauen der jüngeren Jahrgänge ein niedrigeres Ideal haben. 

Die persönliche ideale Kinderzahl pro Familie beträgt in Ostdeutschland im Mittel 1,6 sowie 1,7 in Österreich und Westdeutschland. Kein anderes europäisches Land hat einen Durchschnittswert unter zwei, selbst andere Länder mit niedrigen Geburtenraten, etwa Italien, Spanien und Griechenland. 

Auf der Suche nach Gründen für den geringen Kinderwunsch von Frauen in Österreich und Deutschland fällt auf, dass dies die Länder sind, die als erste in Europa in den 70er-Jahren einen Rückgang der Geburtenraten unter die Schwelle der Generationserneuerung erlebten. 

Abb. 2: Entwicklung der jährlichen Geburtenraten in Niedrigfertilitätsländern.

Abbildung 2 veranschaulicht, wann die jährlichen Geburtenzahlen in den Ländern mit derzeit sehr niedriger Fertilität (unter 1,5 Kinder pro Frau) zu sinken begonnen haben. Zu sehen ist, dass niedrige Periodenfertilität seit längstem in Deutschland zu verzeichnen ist. In Österreich setzte diese Entwicklung nur wenig später ein. In Italien fielen die Geburtsraten etwa ein Jahrzehnt später als in Deutschland, unter 1,5. Spanien und Griechenland folgten in den 80er-Jahren. 

Da der Einbruch der Geburtenraten in den deutschsprachigen Ländern schon etwa 30 Jahre zurückliegt, haben jüngere Menschen in Deutschland und Österreich ihr ganzes Leben im Kontext niedriger Geburtenzahlen verbracht. Junge Österreicher und Deutsche wurden bereits in einem Umfeld kleinerer Familien und höherer Kinderlosigkeit sozialisiert als andere Europäer. Es ist daher als plausibel anzunehmen, dass sich der Wandel in der tatsächlichen Kinderzahl auf die Ideale der nächsten Generation auswirkt: von der erlebten Realität zur Norm. Damit wäre die gesunkene Wunschkinderzahl in den beiden Ländern eine natürliche Konsequenz aus vielen Jahren mit real niedrigen Geburtenraten. 

Außerdem ist zu beobachten, dass sich im deutschsprachigen Raum eine Kultur der niedrigen Fertilität entwickelt. Der Wandel in der tatsächlichen Kinderzahl hielte nicht an, wenn er nicht mit entsprechenden kulturellen Veränderungen einherginge. Als Beispiel seien Fernsehserien über Großfamilien genannt. Diese spielen im deutschen und österreichischen Fernsehen beinahe keine bedeutende Rolle mehr, im Unterschied zum Beispiel zu Italien. Dies wäre ein möglicher Ansatzpunkt für Studien über den Einfluss von Kultur und Medien auf den Wandel bzw. den Bestand von reproduktiven Normen. 

Auch andere Studien belegen, dass die Bedeutung von Familie und Kinderwunsch in den jüngsten Jahrgängen grundsätzlich abgenommen hat. So meinten noch 1995 in Jugendumfragen in Österreich 50 Prozent der befragten Männer und Frauen im Alter von 16 bis 24 Jahren, dass es für Paare sehr wichtig sei, Kinder zu haben. Im Jahr 2000 halbierte sich dieser Prozentsatz nahezu auf ingesamt rund ein Viertel. 

Das Eurobarometer zeigt, dass Frauen in allen Ländern Europas im Durchschnitt 0,2 bis 0,4 Kinder weniger (realistisch betrachtet) erwarten als sie persönlich ideal finden. Liegt die Realisierung auch in Zukunft niedriger als das Ideal, lässt dies den Schluss zu, dass das sinkende Ideal tendenziell noch zu weiter sinkenden Geburtenraten führen wird. Weitergedacht könnte dies sogar zu einer negativen Spirale führen: niedrige Geburtenraten bewirken mit Zeitverzögerung niedrigere Ideale, ein Sinken der Ideale führt zu noch niedrigeren Geburtenraten. Auch eine Politik, die eine Erhöhung der Geburtenraten bzw. eine Verringerung der Diskrepanz zwischen höherem Kinderwunsch und Wirklichkeit unterstützen möchte, bleibt wirkungslos, wenn der Kinderwunsch selbst weg bricht. 

Im europäischen Kontext kann wohl davon ausgegangen werden, dass Österreich und Deutschland lediglich die ersten Länder mit einer solchen Entwicklung sind. Erweist sich die hier aufgestellte Hypothese als richtig, so werden auch andere Länder, die den Übergang zu sehr niedrigen Geburtenraten etwas später erlebten, wie Italien und Spanien, in absehbarer Zukunft einen ähnlichen Wandel der Normen erleben.

Literatur

  • Goldstein, J., W. Lutz and M.R. Testa: The emergence of sub-replacement family size ideals in Europe. Vienna Institute of Demography, Vienna 2003, 27 p. (European Demographic Research Papers ;2), Population Research and Policy Review 22(2003)5-6: 479-496.
  • Friesl, C. (Hg.): Experiment Jung-sein: die Wertewelt österreichischer Jugendlicher. Czernin, Wien 2001, 256 S.
  • Bongaarts, J.: Fertility and reproductive preferences in post-transitional societies. Population and Development Review 27(2001): 260-281.

Aus Ausgabe 2004/2

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