Obwohl die Geburtenrate in allen europäischen Ländern deutlich unter dem Bestandserhaltungsniveau (2,1 Kindern pro Frau) liegt, unterscheiden sich die Länder. So haben Deutschland und Österreich mit einer Gesamtfertilitätsrate von 1,3 eine der niedrigsten Raten, Schweden, Dänemark, Norwegen und Finnland mit 1,7 eine der höchsten in Europa. Gemeinsamkeiten der Länder mit relativ hohen Geburtenraten sind, dass ihre Familienpolitik auf die Unterstützung der Erwerbstätigkeit von Müttern ausgerichtet ist und sie über ein großes Angebot an Betreuungseinrichtungen für Kinder verfügen.
Doch daraus lässt sich noch nicht ableiten, dass Familienpolitik tatsächlich das Fertilitätsverhalten beeinflusst. Zum einen ist die Gesamtfertilitätsrate ein zu ungenauer Indikator. Zum anderen ist die Familienpolitik heterogen; dazu gehören Mutterschutz, Elternzeit, Kinderbetreuungsangebote, Kindergeld und Steuerregelungen. Zudem ist Familienpolitik ein Teil der wohlfahrtsstaatlichen Politik eines Landes. Steht diese zu ihr im Widerspruch, kann die Wirkung von Familienpolitik geschwächt werden. Familienpolitik kann außerdem je nach Arbeitsmarktlage unterschiedliche Effekte zeitigen. Demografische Analysen müssen daher sowohl geburtenspezifisch angelegt sein als auch familienpolitische, wohlfahrtsstaatliche und arbeitsmarktbezogene Gegebenheiten berücksichtigen. Neue Studien des Max-Planck-Institutes für demografische Forschung zur Wirkung familienpolitischer Instrumente verdeutlichen dies.
Die Sozialpolitik der nordischen Länder zielt darauf, allen Frauen und Männern – unabhängig von ihrem Familienstatus – Erwerbstätigkeit und Elternschaft zu ermöglichen und die Gleichheit aller zu fördern. Entsprechend sind seit Ende der 1960er-Jahre die Erwerbstätigkeit von Frauen unterstützt und das Betreuungsangebot ausgebaut worden. Gegenwärtig sind von den 20- bis 39-jährigen Frauen rund 80 Prozent erwerbstätig. Von den ein- bis dreijährigen Kindern besuchen zwischen 36 Prozent (Finnland) und 78 Prozent (Dänemark) eine Kindertagesstätte; von den Drei- bis Sechsjährigen sind es zwischen 67 Prozent (Finnland) und 94 Prozent (Dänemark). Eine außerschulische Betreuung nehmen 30 Prozent (Norwegen) bis 80 Prozent (Dänemark) der schulpflichtigen Kinder in Anspruch.
Sozial- und familienpolitische Leistungen sind weitgehend unabhängig vom Familienstand. Die Leistungshöhe richtet sich nach dem vorangegangenen Einkommen und soll den Erhalt des Lebensstandards auch im Falle einer Erwerbsunterbrechung sichern. So beläuft sich das Elterngeld während der Elternzeit in Finnland auf durchschnittlich 71 Prozent des vorangegangenen Einkommens; in Schweden auf 80 Prozent, in Norwegen auf zwischen 80 und 100 Prozent. In Dänemark wird Elterngeld in Relation zum Arbeitslosengeld gezahlt. Dem Gleichheitsprinzip folgend zielt die Familienpolitik auch auf eine größere Beteiligung von Väternan der Kinderbetreuung (Vaterurlaub).
Trotz familienpolitischer Gemeinsamkeiten gibt es Unterschiede: Finnland, Dänemark und Norwegen haben mit einer bezahlten Kinderbetreuungszeit die auf Erhalt der Erwerbstätigkeit ausgerichtete Politik aufgeweicht. Finnland etablierte als erstes Land diese Maßnahme. Danach erhalten Eltern bis zum dritten Geburtstag eines Kindes ein Kinderbetreuungsgeld, sofern ihr Kind nicht in einer öffentlichen Kindertagesstätte betreut wird. Dennoch hat ein Kind das Recht auf einen Platz in einer Betreuungseinrichtung.
Abb. 1: Zweitgeburtenraten von Müttern mit einem Kind in den nordischen Ländern, berechnet relativ zu Schweden 1977 (unter Berücksichtigung des Alters der Mutter und des ersten Kindes); Beispiel: in Finnland war Mitte der 90er-Jahre für eine Mutter mit einem Kind die Wahrscheinlichkeit ein zweites Kind zu bekommen um etwa 40 Prozent höher als 1977 in Schweden.
Schweden führte in den 1980er-Jahren eine geburtenbezogene Elterngeldregelung ein: Eltern, die ihr zweites (oder weiteres) Kind innerhalb eines bestimmten Zeitraumes nach dem vorangegangenen Kind bekommen, können Elterngeld auf der Basis jenes Einkommens erhalten, das sie vor der Geburt des vorangegangenen Kindes hatten. Eine Verringerung des Einkommens, etwa durch Elternzeit oder Teilzeitbeschäftigung nach der Geburt eines Kindes, wirkt sich dann nicht auf die Höhe des Elterngeldes bei einer folgenden Geburt aus. Diese Maßnahme hat zu einer Verkürzung des Geburtenabstandes insbesondere zwischen dem ersten und zweiten Kind geführt. Dies bewirkte einen Anstieg der Zweitgeburtenraten (siehe Abbildung 1) und zu einem geringeren Teil der Dritt- und Viertgeburtenraten.
In den 1990er-Jahren fiel die Fertilität in Schweden stark. Dieser Rückgang ist nicht auf eine grundlegende Änderung im Geburtenverhalten zurückzuführen: Auch in den 1990er-Jahren bekamen Frauen ihr zweites Kind deutlich früher als vor Einführung der Maßnahme. Doch die ökonomische Krise der frühen 1990er-Jahre und der drastische Anstieg der Arbeitslosigkeit bewogen vor allem nicht erwerbstätige Frauen, in geringerem Maße ein Kind zu bekommen. Die Elterngeldregelungen in Bezug auf die zeitliche Planung von zweiten und weiteren Geburten haben somit ein prozyklisches Geburtenverhalten verstärkt.
Eine andere Wirkung hatte das Kinderbetreuungsgeld in Finnland. Wie in Schweden stieg hier Anfang der 1990er-Jahre die Arbeitslosigkeit wegen einer ökonomischen Krise stark; jedoch sank die Fertilitätsrate nicht. Untersuchungen zeigen, dass das Kinderbetreuungsgeld insbesondere arbeitslosen Frauen erlaubte, die Zeit der ökonomischen Krise und der eingeschränkten Erwerbsmöglichkeiten zu überbrücken. Allerdings senkten das Kinderbetreuungsgeld und die damit verbundene längere Unterbrechung der Erwerbstätigkeit die Wiedereinstiegschancen von Frauen in den Arbeitsmarkt.
Diese Studien verdeutlichen, dass die Wirkungen von familienpolitischen Maßnahmen auf die Fertilität vom Kontext abhängen und zeitlichen Schwankungen unterliegen können. Die hohen Fertilitätsraten in den nordischen Ländern deuten jedoch darauf hin, dass deren Familienpolitik, die auf Erwerbsbeteiligung aller, auf Abfederung von Lebensrisiken und auf das Recht auf Betreuung für alle setzt, soziale Bedingungen schafft, die es Frauen und Männern eher ermöglichen, Kinder zu haben als dies gegenwärtig in Deutschland und Österreich der Fall ist.