ISSN 1613-8856

Max-Planck-Institut für demografische Forschung /Vienna Institut of Demography

Weißt du, wieviel Kinder kommen?

2012 | Jahrgang 9 | 1. Quartal

Keywords: Geburtenrate, Geburtenfolge, Kohortenfertilität, Ost/West-Deutschland

Wissenschaftliche Ansprechpartnerin: Michaela Kreyenfeld

Wissenschaftlicher Ansprechpartner: Marc Luy

Nicht 1,4, sondern 1,6 Kinder pro Frau werden demnach in Deutschland geboren. Das ergaben zwei unabhängige Studien vom Rostocker Max-Planck-Institut für demografische Forschung sowie dem Vienna Institute of Demography und dem Statistischen Bundesamt in Wiesbaden. Damit ist die konventionelle zusammengefasste Geburtenziffer, die als zentraler Kennwert vom Statistischen Bundesamt veröffentlicht wird, zwar keineswegs falsch. Mit Hilfe der vom Tempoeffekt bereinigten Angaben lässt sich jedoch ein genaueres Bild der Fertilität gewinnen, das auch bessere Vergleiche zu anderen Ländern ermöglicht. 

Entstehen kann eine solche Differenz zwischen tempobereinigter (TFR*) und konventioneller zusammengefasster (TFR)  Geburtenziffer immer dann, wenn sich das Alter ändert, in dem Frauen ihre Kinder bekommen. Denn demografische Maße wie die zusammengefasste Geburtenziffer basieren auf der Annahme, dass die gegenwärtigen demografischen Verhältnisse unverändert bleiben. Wenn Frauen aber später Kinder bekommen als vorherige Jahrgänge, dann entsteht eine Lücke, in der weniger Geburten verzeichnet werden. Sobald die Frauen die Geburten in einem höheren Alter nachholen, steigt auch die zusammengefasste Geburtenziffer wieder an. Je nachdem, was mit einem demografischen Maß ausgedrückt werden soll, können solche Veränderungen die gewünschte Information verzerren. Mit Hilfe der Tempobereinigung wird daher versucht, das steigende Gebäralter bei der Berechnung der Raten zu berücksichtigen. 

Genau das haben die Wissenschaftler aus Deutschland und Österreich nun getan: Während die zusammengefasste Geburtenziffer (TFR) im Westen seit Jahren sinkt oder stagniert, steigen die tempobereinigten Zahlen (TFR*) sowohl für Ostdeutschland als auch für Westdeutschland. Da für diese Schätzung detaillierte Angaben nötig sind, die in Deutschland bis 2009 von der amtlichen Statistik nicht erfasst wurden, konnten die tempobereinigten Geburtenziffern für Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Staaten bisher nicht berechnet werden. Doch den Demografen in Rostock, Wien und Wiesbaden gelang es, die notwendigen Daten unter anderem aus den Erhebungen von Entbindungsstationen zu schätzen. 

Abb. 1: Die Entwicklung der zusammengefassten (TFR) im Vergleich zur tempobereinigten (TFR*) Geburtenziffer in Ostdeutschland (1956-1986 und 1997-2007) und Westdeutschland (1960-2007). Werte für die TFR* wurden als Dreijahresdurchschnitt der einzelnen Jahreswerte ermittelt. Quelle: Luy/Pötzsch 2010.

Marc Luy vom Vienna Institute of Demography und Olga Pötzsch vom Statistischen Bundesamt konnten in ihrer Studie so Zeitreihen für die tempobereinigte Geburtenziffer von 1960 bis 2007 in Westdeutschland und 1956 bis 1986 sowie 1997 bis 2007 in Ostdeutschland ableiten. Besonders interessant ist für die Demografen dabei der dramatische Rückgang der Geburtenzahlen nach der Wiedervereinigung, der in der ersten Hälfte der 90er Jahre in Ostdeutschland zu einem Rekordtief von 0,8 Kindern pro Frau führte. Hätte die DDR zu dieser Zeit noch als eigenständiges Land existiert, es wäre die niedrigste je verzeichnete Geburtenziffer gewesen. Wie dieser Rückgang zu interpretieren ist, wie lang er anhält und welche Ursachen er hat, wurde vielfach diskutiert. Obwohl in den Jahren um die Wiedervereinigung wichtige Daten für die Berechnung der tempobereinigten Geburtenziffer fehlen, lässt sich mit dem neuen Zahlenmaterial für die späten 90er Jahre feststellen: ein Großteil dieses extremen Rückgangs erklärt sich durch den Tempoeffekt, also den starken Anstieg des Gebäralters ostdeutscher Mütter nach der Wende. Viele Frauen schoben die Familienbildung damals aufgrund der sozialen und ökonomischen Unwägbarkeiten auf. So kam es, dass die zusammengefasste Geburtenziffer 1997 noch bei 1,04 Kindern pro Frau lag, während die tempobereinigte Zahl in diesem Jahr bereits wieder 1,47 Kinder prognostizierte. 

Dass es sich bei dem Einbruch der Geburtenraten in Ostdeutschland nur um eine vorübergehende Reaktion auf die drastischen Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen handelte, zeigt sich mittlerweile auch bei der zusammengefassten Geburtenziffer: Während sie im Westen seit den 90er Jahren weitestgehend stagniert oder sinkt, hat der Osten einen stetigen Anstieg zu verzeichnen und überholte Westdeutschland jüngst sogar (Osten 2009: 1,4; Westen 2009: 1,35). 

Tab. 1: Sozioökonomische Indikatoren für West- und Ostdeutschland. Quelle: Goldstein/Kreyenfeld 2011.

Damit sind viele frühere Vermutungen zur Fertilitätsentwicklung in Ostdeutschland hinfällig. Dass sich in den Geburtenraten die ökonomischen Bedingungen widerspiegeln war zum Beispiel eine oft geäußerte Annahme. Es zeigte sich jedoch, dass die Fertilität seit Mitte der 90er Jahre beständig anstieg, während die wirtschaftliche Entwicklung stagnierte. Noch im Jahr 2008, als die Geburtenziffer in Ostdeutschland schon über der Westdeutschlands lag, war die Arbeitslosenquote im Osten deutlich höher (Ost: 14,5%, West: 7,8%), das Durchschnittseinkommen deutlich niedriger (Ost: 29.300 Euro; West: 35.200 Euro). Deshalb sehen Michaela Kreyenfeld und Joshua Goldstein vom Rostocker Max-Planck-Institut für demografische Forschung in den nahezu identischen Fertilitätsraten der beiden Landesteile auch kein Zeichen für eine soziale Vereinheitlichung. Sie zeigen vielmehr, dass die Trennung Ost- und Westdeutschlands in den soziokulturellen und ökonomischen Unterschieden noch bis in die Gegenwart nachwirkt (s. Tab. 1). Während etwa die Hälfte der Mütter mit Kindern unter 18 Jahren in Ostdeutschland Vollzeit arbeitet, sind es im Westen gerade einmal 19 Prozent. Auch der Anteil der unter Dreijährigen, die in einer Krippe sind, ist im Osten mit 41 Prozent mehr als dreimal so hoch wie in Westdeutschland (12 Prozent). 

Abb. 2: Die endgültige Kinderzahl für die Jahrgänge 1950-61 (erhobene Daten) und 1962-1975 (Prognose). Quelle: Human Fertility Database, Goldstein/Kreyenfeld 2011.

Wie sich der Ausbau der Krippenplätze in Westdeutschland zukünftig auf die Geburtenrate auswirken wird, ist noch unklar. Doch eine kleine Trendwende ist bereits in Sicht: Für Frauen, die zwischen 1955 und 1975 geboren wurden, haben Goldstein und Kreyenfeld die durchschnittliche Kinderzahl für die einzelnen Geburtenjahrgänge ermittelt. Dabei kann für die Frauen, die bis 1961 geboren wurden und die Familienbildung weitestgehend abgeschlossen haben, bereits von einer tatsächlichen endgültigen Kinderzahl gesprochen werden. Für die jüngeren Jahrgänge wurden die Zahlen vorausberechnet (s. Abb. 2). Auch wenn die Schätzungen gerade für die jüngsten Jahrgänge noch unsicher sind, scheint sich bei den Frauen, die 1970 und später geboren sind, ein Wendepunkt abzuzeichnen: Die endgültige Kinderzahl steigt wieder an.

Literatur

  • Luy, M. und O. Pötzsch: Schätzung der tempobereinigten Geburtenziffer für West- und Ostdeutschland, 1955- 2008. Comparative Population Studies – Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 35(2010)3: 569-604.
  • Goldstein, J.R. and M. Kreyenfeld: Has East Germany overtaken West Germany? Recent trends in order-specific fertility. Population and Development Review 37(2011)3: 453-472.

Aus Ausgabe 2012/1

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