ISSN 1613-8856

Max-Planck-Institut für demografische Forschung

Keine Kitas, keine Kinder

2014 | Jahrgang 11 | 2. Quartal

Keywords: Geburtenrate, Kinderfreier Lebensstil, Betreuungsangebote, Deutschland, Belgien, Kulturelle Normen, Bildungsniveau

Mitautor der wissenschaftlichen Studie: Sebastian Klüsener

Ein Leben ohne Kinder: Manche Paare ziehen es dem anstrengenden Alltag mit einer Familie vor. Sie genießen ihren Beruf, den Luxus und die Freiheit, die ihnen ihr kinderfreier Lebensstil ermöglicht. Vor allem in den deutschsprachigen Ländern genießen die sogenannten Dinks (double income, no kids) eine hohe Akzeptanz. 

Viele Forscher waren daher in der Vergangenheit zu dem Schluss gekommen, dass die niedrige Geburtenrate in Deutschland hauptsächlich die Folge einer kulturellen Besonderheit ist. Dass sie mit dieser Annahme womöglich irren, legt jetzt eine Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock nahe. 

Ein Team um Sebastian Klüsener konnte zeigen, dass Frauen in der deutschsprachigen Region Belgiens deutlich mehr Kinder kriegen als die Frauen hierzulande. Da Belgien anders als Deutschland seit langem über ein gut ausgebautes Betreuungssystem verfügt, identifizieren Klüsener und seine Kollegen vor allem einen Grund für die hiesige niedrige Geburtenrate: den Mangel an Betreuungsangeboten. 

Für ihre Studie haben die Demografen Daten des belgischen Zensus aus dem Jahr 2001 und des deutschen Mikrozensus von 2008 analysiert. Anhand dieser repräsentativen Individualdaten untersuchten sie die Geburtenraten von Frauen der Jahrgänge 1935 bis 1959 in Deutschland, Belgien und speziell der deutschsprachigen Region Belgiens. Diese liegt an der Grenze zu Deutschland und hat Deutsch als Amtssprache. Auch im Alltag der 75.000 Bewohner und im Schulwesen ist Deutsch die dominierende Sprache. Die Deutschbelgier konsumieren häufig deutsche Massenmedien, viele pendeln nach Deutschland zur Arbeit. Gleichzeitig können sie seit fast einem Jahrhundert die belgischen Familienleistungen in Anspruch nehmen. 

„Wären kulturelle Normen ausschlaggebend für die Geburtenrate, müsste sie in der deutschsprachigen Region ähnlich niedrig wie in Deutschland sein“, sagt Klüsener. Doch dem ist nicht so: Während die westdeutschen Frauen der Geburtsjahrgänge 1955 bis 1959 während ihres Lebens im Schnitt nur 1,65 Kinder bekommen hatten, waren es bei den Bewohnerinnen der deutschsprachigen Region Belgiens 1,88. Damit liegen sie sogar noch leicht über dem Niveau des restlichen Landes: In Belgien insgesamt lag die durchschnittliche Kinderzahl dieser Geburtsjahrgänge bei 1,84 (s. Abb.1). Vor allem die Entscheidung für ein drittes Kind erfolgte in allen betrachteten Regionen Belgiens häufiger als in Deutschland. 

Abb. 1: Frauen in der deutschsprachigen Region Belgiens (ausgenommen deutsche Staatsbürgerinnen oder in Deutschland Geborene) bekommen im Schnitt ähnlich viele Kinder wie Belgierinnen. In Westdeutschland ist die Geburtenrate hingegen deutlich niedriger. Quellen: belgischer Zensus 2001, deutscher Mikrozensus 2008, eigene Berechnungen.

„Ein gutes Angebot öffentlicher Kinderbetreuung scheint für Geburtenentscheidungen wesentlicher zu sein als die gelebte deutsche Kultur“, sagt Klüsener. Denn während sich die deutsche und belgische Familienpolitik bei Leistungen wie Kindergeld und Elternzeit ähneln, unterscheidet sich das Betreuungssystem enorm. Seit 1950 wurden die Angebote in Belgien kontinuierlich erweitert, was unter anderem dazu führte, dass dort 1970 schon 95 Prozent aller Vierjährigen eine Kita besuchten. In Westdeutschland waren es zu dieser Zeit erst ein Drittel der Kinder, wobei viele nur halbtags betreut wurden. Die Diskrepanz hält bis heute an: Während 2008 in Belgien 43 Prozent der unter Dreijährigen öffentlich-unterstützt betreut wurden, waren es in Westdeutschland im gleichen Jahr nur 10 Prozent. 

Tab. 1: Die Tabelle beleuchtet den Einfluss der Bildung auf die Wahrscheinlichkeit, dass die Frauen in den untersuchten Regionen in ihrem Leben mindestens ein Kind zur Welt gebracht haben. Je gebildeter die Frauen sind, desto größer ist demnach die Chance, dass sie kinderlos bleiben. In Belgien ist dieser Effekt aber weniger ausgeprägt als in Westdeutschland. Alle Werte sind im Vergleich zur Referenzgruppe (Personen mit niedriger Bildung) signifikant. Quellen: belgischer Zensus 2001, deutscher Mikrozensus 2008, eigene Berechnungen.

Andere Einflüsse auf die Geburtenrate konnten die Forscher um Klüsener weitgehend ausschließen. So ist zum Beispiel bekannt, dass eine bessere Bildung der Frauen im Allgemeinen mit einer geringeren Anzahl an Kindern einhergeht. Dieser Zusammenhang wurde auch in der aktuellen Studie deutlich: Je gebildeter die untersuchten Frauen waren, desto größer war die Chance, dass sie kinderlos blieben. Allerdings ist dieser Effekt in Deutschland sehr viel deutlicher zu beobachten als in der deutschsprachigen Region Belgiens und im restlichen Teil des Landes (s. Tab. 1). „Aus anderen Studien wissen wir, dass Kinderbetreuungsangebote gerade für gut ausgebildete Mütter wichtig sind“, sagt Michaela Kreyenfeld, die an der Untersuchung beteiligt war. „Unsere Ergebnisse passen in dieses Bild.“ Das belgische Betreuungssystem scheine Paare in ihrer Entscheidung für ein Leben mit Kindern zu unterstützen, weil es die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtere, lautet denn auch das Fazit der Demografen. Und somit ist es kein Wunder, dass in der deutschsprachigen Region Belgiens Anfang des Jahrtausends knapp zwei Drittel der Mütter von null- bis zweijährigen Kindern erwerbstätig waren. In Westdeutschland waren es gerade mal ein Drittel.

Literatur

  • Klüsener, S., Neels, K., Kreyenfeld, M.: Family policies and the Western European fertility divide: insights from a natural experiment in Belgium. Population and Development Review 39(2013)4, 587-610.
    DOI: 10.1111/j.1728-4457.2013.00629.x

Aus Ausgabe 2014/2

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