Das Verlängern der Lebensarbeitszeit wird als ein Mittel gesehen, das dabei helfen könnte, die Herausforderungen einer alternden Gesellschaft zu meistern. Wenn alle mehr Zeit ihres Lebens in Arbeit verbringen, zahlen sie auch mehr in die Rentenkasse ein, so die Idee. Ob das gelingt, hängt unter anderem ganz wesentlich davon ab, ob und wie viel die Menschen im letzten Abschnitt ihres Erwerbslebens, also kurz bevor sie das Renteneintrittsalter erreichen, arbeiten. Ein Forscherteam um Christian Dudel vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung hat in einer aktuellen Studie die Erwerbstätigkeit in diesem Lebensabschnitt, über die man bisher noch sehr wenig weiß, untersucht.
Viele der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der letzten Jahrzehnte fokussierten sich auf den letzten
Abschnitt des Erwerbslebens. Die aktuell gültigen Regelungen und Gesetze zielen vor allem darauf
ab, die Menschen länger im Berufsleben zu halten. Lange war aber eher das Gegenteil der Fall: Damals wollte man die älteren Erwerbstätigen dazu bewegen, den Arbeitsmarkt zu verlassen, um Platz für die jüngeren, geburtenstarken Jahrgänge zu schaffen. Um das zu erreichen, gab es Regelungen, die einen frühen Renteneintritt attraktiver machten. Beispielsweise konnte man in Westdeutschland in den 1980er-Jahren im Alter von 58 Jahren aus dem Erwerbsleben aussteigen, zwei Jahre lang Arbeitslosengeld beziehen und dann im Alter von 60 Jahren in Rente gehen. Es war relativ einfach, eine Erwerbsunfähigkeitsrente anerkannt zu bekommen, und diese konnte ohne Abschläge im Alter von 60 Jahren in eine reguläre Altersrente umgewandelt werden.
Doch ab den 2000er-Jahren wendete sich das Blatt. Man erkannte, dass die alternde Bevölkerung zu einem großen Problem für das umlagenfinanzierte Rentensystem werden würde. Denn die deutsche Bevölkerung gehört zu den ältesten der Welt. Der Anteil der Bevölkerung, die älter als 67 Jahre ist, wird voraussichtlich von 19 Prozent im Jahr 2018 auf 26 Prozent im Jahr 2040 ansteigen. Gleichzeitig ist mit einem Rückgang der Erwerbsbevölkerung zu rechnen. Die Maßnahmen, die ergriffen wurden, um diesem Ungleichgewicht zu begegnen, zielten wieder vor allem auf den letzten Abschnitt des Erwerbslebens ab: Das Renteneintrittsalter der Frauen wurde zwischen 2000 und 2009 sukzessive von 60 auf 65 Jahre angehoben, für alle wird das Renteneintrittsalter bis 2031 Stück für Stück von 65 auf 67 Jahre angehoben. Durch eine Reihe von Reformen wurde zudem der Vorruhestand unattraktiver gemacht. Derzeit können Arbeitnehmer, mit wenigen Ausnahmen, erst im Alter von 64 Jahren vorzeitig in Rente gehen und müssen dann Kürzungen der Rentenleistungen in Kauf nehmen.
Die Forscher*innen wollten herausfinden, ob die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen tatsächlich dazu geführt haben, dass die Lebensarbeitszeit ansteigt und die Menschen im höheren Alter mehr arbeiten. Als mindestens ebenso wichtig erachteten sie aber die Frage, ob alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen von den Maßnahmen betroffen sind beziehungsweise davon profitieren. Für ihre Studie nutzten sie Daten des Mikrozensus. Untersucht wurden die Geburtsjahrgänge 1941 bis 1955 und hier die Erwerbsalter von 55 bis 64 Jahren.
Altersspezifische Beschäftigungsquoten
Abb. 1: Altersspezifische Beschäftigungsquoten im Alter von 55 bis 64 Jahren. Insgesamt nimmt die Lebensarbeitszeit von Jahrgang zu Jahrgang zu. Quelle: Mikrozensus, eigene Berechnungen
Ihre Ergebnisse zeigten, dass die Lebensarbeitszeit in allen untersuchten Geburtsjahrgängen in Deutschland stetig zugenommen hat, sowohl bei Männern als auch bei Frauen, in Ost- sowie in Westdeutschland (s. Abb. 1). Dieses Ergebnis passt zu der Entwicklung der Beschäftigungsquoten im höheren Alter. Diese sind, wie andere Studien gezeigt haben, seit dem Jahr 2000 kontinuierlich gestiegen. Schwierig sei allerdings zu unterscheiden, ob dies auf die Reformen oder auf die insgesamt starke Entwicklung des deutschen Arbeitsmarktes zurückzuführen sei, so die Autor*innen. Auch die kontinuierlich steigenden Bildungsabschlüsse könnten einen Einfluss haben. Allerdings zeigt die Studie auch, dass die Unterschiede zwischen verschiedenen sozioökonomischen Gruppen sehr groß sind: So arbeiten zum Beispiel westdeutsche Männer mit hohem Bildungsgrad im Durchschnitt dreimal so viele Jahre wie ostdeutsche Frauen mit einem niedrigen Bildungsgrad (s. Abb. 2). Außerdem steigt die Lebensarbeitszeit bei einigen Gruppen deutlich langsamer als bei anderen. Insbesondere Männer und Frauen in Ostdeutschland mit niedrigem Bildungsniveau würden Gefahr laufen, ins Hintertreffen zu geraten, ebenso wie Männer in Ost und West, die in einfachen Berufen arbeiten oder ungelernt sind, schreiben die Wissenschaftler*innen. Auffällig, aber auch erwartbar sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede: Männer arbeiten länger und die Beschäftigungsquoten der Frauen sind durchweg erheblich niedriger.
Lebensarbeitszeit/Vollzeitäquivalent nach Bildungsniveau
Abb. 2: Wie viel Zeit Menschen im Arbeitsleben verbringen, hängt stark vom Bildungsniveau ab. Besonders schlecht stehen Frauen in Ostdeutschland mit geringem Bildungsniveau da. Quelle: Mikrozensus, eigene Berechnungen
Ursache dafür ist das deutsche Steuersystem, das das männliche Ernährer-Modell begünstigt. Außerdem ist es für Frauen nach wie vor schwierig, nach Kindererziehungszeiten wieder in den Arbeitsmarkt
einzusteigen.
Was Bildung und Berufsqualifikation angeht, stellten die Forscher*innen fest, dass ein höherer Bildungsabschluss und eine höhere Berufsqualifikation mit einer höheren Lebensarbeitszeit einhergeht. Dafür gibt es wahrscheinlich mehrere Gründe: So sind gering qualifizierte Menschen einem höheren Risiko ausgesetzt, arbeitslos zu werden. Dieses Risiko können sie nicht durch einen längeren Verbleib im Arbeitsmarkt ausgleichen, weil der Insider-Outsider-Charakter des deutschen Arbeitsmarktes arbeitslosen älteren Arbeitnehmer*innen die Jobsuche erschwert. Außerdem ist es immer noch üblich, dass Arbeitsverträge mit dem gesetzlichen Rentenalter enden, was es für einige ältere Menschen schwierig macht, länger im gleichen Job zu arbeiten. Ältere Menschen seien zudem manchmal nicht mehr in der Lage, körperlich anstrengenden Berufen nachzugehen. Eine Herausforderung für die Zukunft sei deshalb, Politiken zu initiieren, die ein längeres Erwerbsleben ermöglichen, aber die Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Beschäftigungsgruppen nicht vergrößern und die Menschen mit niedriger beruflicher Qualifikation nicht benachteiligen, so die Autor*innen.