Der so genannte Tempoeffekt der Fertilität bewirkt, dass in Zeiten eines Anstiegs des mittleren Gebäralters die jährliche Maßzahl der Fertilität (Gesamtfruchtbarkeitsrate, Periodenfertilität) deutlich niedriger ist als in Jahren, in denen das Gebäralter konstant bleibt, auch wenn sich die Kinderzahl über den Lebensverlauf von Frauen (Kohortenfertilität) nicht verändert. Dieses bisher außerhalb der technischen Demografie wenig beachtete Phänomen kann auch dazu führen, dass bei einer Stabilisierung oder gar bei einem Sinken des mittleren Gebäralters die jährliche Geburtenrate deutlich steigt.
In allen Ländern Europas sind die Fertilitätsraten (Periodenfertilität) in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gefallen. Dies geht demografisch gesehen auf zwei Faktoren zurück: Eine Abnahme der durchschnittlichen Zahl von Kindern, die Frauen im Laufe ihres Lebens haben (Kohortenfertilität), und einen negativen „Tempoeffekt“ durch den Anstieg im durchschnittlichen Alter bei der Geburt der Kinder.
Abb. 1: Zentral- und Osteuropa, Durchschnittsalter der Mutter bei der Geburt, 1980 bis 2001.
Abb. 2: Zentral- und Osteuropa, Gesamtfruchtbarkeitsrate (TFR), 1980 bis 2001.
In allen Ländern Europas kann man sehen, dass die Fertilitätsraten in den Jahren sehr niedrig waren, in denen das mittlere Gebäralter besonders stark stieg. Deutlich ist dies vor allem in den neuen Mitgliedsländern der Europäischen Union (EU) in Mitteleuropa (siehe Abbildungen 1 und 2). Dort führte die politische Wende um 1990 dazu, dass das mittlere Alter bei der Geburt stark stieg, während gleichzeitig die Fertilitätsraten dra matisch sanken. Das heißt: die Geburten wurden zunächst einmal verschoben. Ob die verschobenen Geburten dann tatsächlich nachgeholt werden, ist eine andere Frage, die später zu diskutieren ist. Zunächst ist festzuhalten, dass das Verschieben allein schon zu einem deutlichen Rückgang der Periodenfertilitätsraten führt. Für die erweiterte EU wird geschätzt, dass dieser Tempoeffekt rund 0,4 Kinder pro Frau beträgt. In anderen Worten, die Fertilitätsrate in der EU würde 1,8 anstatt 1,4 betragen, wenn das mittlere Alter bei der Geburt zumindest konstant bliebe.
Abb. 3: Veranschaulichung des Tempoeffektes bei unterschiedlichen Annahmen zum Alter bei der Geburt.
Abbildung 3 veranschaulicht den intuitiv etwas schwierig verständlichen Tempoeffekt. In den ersten Jahren einer hypothetischen Entwicklung sind die Gesamtfruchtbarkeitsrate (TFR) und das mittlere Gebäralter konstant. Langfristig bedeutet dies, dass Perioden- und Kohortenfertilität identisch sind. Nach dem vierten Jahr steigt das mittlere Gebäralter um 0,2 Jahre (zum Beispiel dadurch, dass jede fünfte Frau ihre Geburt um ein Jahr verschiebt). Diese Verschiebung bewirkt, dass im fünften Jahr rund 20 Prozent weniger Kinder geboren werden und die Fertilitätsrate entsprechend fällt. Steigt das mittlere Gebäralter im sechsten Jahr weiter, bleibt die Gesamtfruchtbarkeitsrate so niedrig (Szenario 2). Bleibt dagegen das Gebäralter auf höherem Niveau konstant, steigt die TFR wieder auf das alte Niveau (Szenario 1). Wichtig ist bei diesem Phänomen auch, dass das Nachholen der verschobenen Geburten nicht notwendigerweise in einem Anstieg der TFR über das alte Niveau hinaus resultiert (dies wäre der Fall, wenn alle folgenden Kohorten ihre Geburten auch entsprechend verschieben). Eine höhere TFR ist nur zu erwarten, wenn das mittlere Gebäralter wieder sinkt, was hier hypothetisch für das elfte Jahr eingezeichnet ist (Szenario 3). In anderen Worten, ein Anstieg des Gebäralters bewirkt ein nachhaltiges Geburtendefizit.
In der Demografie wurde in den vergangenen Jahren viel Energie darauf verwendet, diesen Tempoeffekt genau zu quantifizieren. Dazu werden Daten nach der Rangfolge der Geburt einer Frau benötigt. Aus diesen Angaben kann eine um den Tempoeffekt korrigierte Fertilitätsrate berechnet werden (Tempo adjusted TFR); diese gibt an, wie hoch die TFR ohne Tempoeffekt wäre bzw. sein wird, wenn das Gebäralter stagniert.
In der Analyse “How Would ,Tempo Policies’ Work? Exploring the Effect of School Reforms on Period Fertility in Europe“ des Institutes für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Lutz und Skirbekk 2004) wird untersucht, wie das mittlere Gebäralter beeinflusst werden könnte, um dadurch nachhaltig mehr Geburten zu haben, ohne dass Frauen im Durchschnitt mehr Kinder im Laufe ihres Lebens haben (die Kohortenfertilität bleibt unberührt). Solche möglichen „Tempo Policies“ könnten politisch vermutlich weit weniger kontrovers sein, da sie nicht die persönliche Kinderzahl beeinflussen. Sie würden nur eine weitere Erhöhung des Gebäralters bremsen, was auch aus gesundheitlichen Gründen vielfach begrüßt würde. Höhere Gebäralter bergen gesundheitliche Risiken für Mutter und Kind. Zudem führt das Verschieben von Geburten häufig dazu, dass Frauen letztendlich ungewollt kinderlos bleiben; dies bewirkt – neben den individuellen Problemen – zusätzlich zum Tempoeffekt, dass die Geburtenzahlen weiter sinken.
Was können Staat und Gesellschaft tun, um den Trend zu immer späteren Geburten zu stoppen? Eine Ansatzmöglichkeit liegt im Schul- und Ausbildungssystem. Kaum eine Frau bekommt heute Kinder vor Abschluss ihrer Ausbildung. Gleichzeitig ist das Abschlussalter weiter gestiegen, was nur zum Teil Folge der Bildungsexpansion ist. Derzeit gibt es in vielen Ländern eine Diskussion über eine Schulreform, wobei primär aus ökonomischen Gründen eine Kürzung der Ausbildungsdauer (in Bayern wurde zum Beispiel das Gymnasium bereits von neun auf acht Jahre verkürzt) sowie ein früherer Schulbeginn (etwa mit fünf Jahren) diskutiert werden. Es geht also darum, dass eine gleichwertige Ausbildung bereits in einem jüngeren Alter abgeschlossen wird. Für Schweden belegen Daten, dass Frauen, die ihre (gleichwertige) Ausbildung ein Jahr früher abschließen, auch ihre Kinder im Schnitt ein halbes Jahr früher bekommen als Frauen, die ein Jahr später abschliessen.
Tabelle 1 zeigt unterschiedliche Szenarien über den Zusammenhang von Schulreform und Geburtenrate für Bayern, Österreich, Italien und Schweden. Sie basieren auf der Annahme, dass für alle Jahrgänge, die von 1995 an geboren wurden, das mittlere Gebäralter langsam um zwei Jahre sinkt, während es für ältere Frauen unverändert bleibt. Die Tabelle zeigt mittelfristig signifikante Effekte. So würden im Jahr 2020 in Bayern mit einer solchen Schulreform 99.527 Kinder geboren werden, während es ohne Reform nur 89.300 wären. Für Österreich betrüge der Unterschied rund 4000 Geburten.
Tab. 1: Prognostizierte Anzahl der Geburten. Keine Immigration; weitere Annahmen siehe Lutz and Skirbekk 2004
Diese Analysen zeigen, dass es interessante neue Denkansätze zur möglichen Beeinflussung der Geburtenrate gibt, die die üblichen familienpolitischen Programme ergänzen können. Auch könnte die Diskussion um die Schulreform dadurch bereichert werden, dass man neben Kosten- und Arbeitsmarkterwägungen die möglichen demografischen Auswirkungen mit berücksichtigt.