Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB)

Familienpolitik braucht einen langen Atem

2013 | Jahrgang 10 | 3. Quartal

Keywords: Deutschland, Elternzeit, Familienpolitik, Geburtenrate, Hochqualifizierte Frauen

Autor der wissenschaftlichen Studie: Martin Bujard

Warum werden in Island durchschnittlich 2,14 Kinder pro Frau geboren, während es in der Slowakischen Republik lediglich 1,32 sind? Um die Unterschiede bei den Geburtenraten zu erklären, werden oftmals die Familienpolitik und die Situation am Arbeitsmarkt in den jeweiligen europäischen Ländern als wichtige Faktoren genannt. Für Deutschland müsste sich demnach ein recht eindeutiges Szenario ergeben: Denn während die Familienpolitik erheblich modernisiert wurde, ging gleichzeitig auch die Arbeitslosenrate – entgegen dem europäischen Trend – zurück. Die Geburtenrate aber hat sich dennoch kaum verändert. Seit Mitte der 90er Jahre pendelt sie zwischen 1,32 und 1,38 Kindern pro Frau. Hat die Familienpolitik also gar keinen Einfluss auf die Geburtenrate, wie Kritiker des gängigen Erklärungsansatzes monieren? Doch, hat sie, meint Martin Bujard vom BiB in Wiesbaden. Er hat für ein internationales Fachmagazin eine Fallstudie zur deutschen Familienpolitik und möglichen Auswirkungen auf die Geburtenrate geschrieben und warnt vor vorschnellen Schlüssen. Denn im Gegensatz zur Zentralbank, die über die Zinsgestaltung unmittelbaren Einfluss auf den Markt nehmen kann, brauche es in der Familienpolitik viel mehr Zeit, bis Maßnahmen wirkten. Schließlich lägen der Entscheidung für oder gegen ein Kind nicht nur ökonomische Motive zugrunde. 

Abb. 1: Das Streudiagramm zeigt den Zusammenhang zwischen Kinderbetreuung und Geburtenrate (nachweisbar im Längs- und Querschnitt in multivariaten Analysen). Dass der aktuelle Ausbau der Kinderbetreuung in Deutschland nicht zu einem sofortigen Anstieg der Geburtenrate geführt hat, ist vermutlich auch darauf zurückzuführen, dass eine gute Betreuungssituation die Entscheidung für oder gegen ein Kind nur zeitverzögert beeinflusst. Quelle: OECD 2010a, 2010c.

Dennoch haben die Reformen der letzten Jahre einiges verändert: War die Familienpolitik früher hauptsächlich auf finanzielle Unterstützung ausgerichtet, so wird heute stärker in den Ausbau familienfreundlicher Infrastruktur investiert, und es werden Auszeiten für junge Eltern geschaffen. Neben dem einkommensabhängigen Elterngeld, das bis zu 14 Monate bezahlt wird, ist hier vor allem der Ausbau der Kindertagesstätten und der Ganztagsschulen zu nennen. Allerdings, so bemerkt Bujard, gibt es noch erhebliche regionale Unterschiede: Während der Anteil der betreuten Unter-3-Jährigen in den ostdeutschen Ländern bei 35 bis 55 Prozent liegt, wurden in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2010 nur 8,7 Prozent erreicht. Bei den Ganztagsschulen sind die Unterschiede sogar noch gravierender: In Bayern machen sie nicht einmal 5 Prozent aus, in Sachsen bieten fast 70 Prozent der Schulen eine Ganztagsbetreuung an.   

Neben den sehr starken regionalen Unterschieden sorgt auch die finanzielle Förderung der Familien für eine gewisse Uneinheitlichkeit: Denn während das Elterngeld und der Ausbau der Betreuungsplätze die Einbindung des Mannes in die Erziehung sowie einen schnellen Wiedereinstieg der Frau in den Job fördern, unterstützt das so genannte Ehegattensplitting das alte Modell aus Ernährer und Hausfrau. Eine breite, kohärente Reform der Familienpolitik ist durch die institutionelle Vielfalt eine Herkulesaufgabe. Die Kompetenzen sind nicht nur vertikal – also zwischen Bund, Bundesländern und Kommunen – verteilt. Auch horizontal sind die Zuständigkeiten bei unterschiedlichen Bundesministerien angesiedelt. 

In diesen Widersprüchen und regionalen Unterschieden sieht Martin Bujard einige der Gründe, warum sich die Reformen der Familienpolitik noch nicht in der Geburtenrate niederschlagen. Darüber hinaus, so der Politikwissenschaftler, brauche es schlichtweg Zeit, bis Reformen in der Gesellschaft ankommen. Der Zusammenhang zwischen familienpolitischen Maßnahmen und einer Veränderung der Geburtenrate ist im Ländervergleich dann am stärksten zu sehen, wenn ein 20-Jahres-Intervall untersucht wird.   

Ganz allgemein zeigt sich seit den 90er Jahren, dass die Geburtenrate vor allem in jenen Ländern hoch ist, in denen es eine großzügige Kinderbetreuung, ein hohes Bruttoinlandsprodukt, eine niedrige Arbeitslosenrate und bestimmte Einwanderergruppen gibt. Dazu spielt die historisch-kulturelle Prägung eine wichtige Rolle. 

Der Forscher sieht die Familienpolitik Deutschlands mitten in einem epochalen Reformprozess. Er warnt davor, dass Effekte auf die Geburtenrate zur Bewertung der familienpolitischen Maßnahmen herangezogen werden. Denn die sollten keine rein demografischen Instrumente sein, sondern primär das Wohl des Kindes und der Eltern zum Ziel haben, so Bujard.

Literatur

  • Bujard, M.: Family policy and demographic effects: the case of Germany. Demográfia: English Edition 54(2011)5, 56-78.

Aus Ausgabe 2013/3

Artikel

Infoletter

Der kostenlose Infoletter erscheint viermal jährlich und ist sowohl als elektronische wie auch als Druckversion erhältlich.