ISSN 1613-8856

Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital

Entscheidend ist die Bildung

2014 | Jahrgang 11 | 2. Quartal

Keywords: Südkorea, Demografische Dividende, Geburtenrate, Bildungsgesteuertes Modell, Wirtschaftswachstum

Mitautor der wissenschaftlichen Studie: Jesús Crespo Cuaresma

Vor einem halben Jahrhundert noch galt Südkorea als eines der ärmsten Länder der Welt. Kurz nach dem Ende des Koreakriegs im Jahre 1953 lag das jährliche Pro-Kopf-Einkommen bei umgerechnet rund 100 US-Dollar. Frauen bekamen im Schnitt sechs Kinder. 

Doch dann begann die Regierung, Schulen zu bauen und den Aufbau von Unternehmen zu fördern. Parallel dazu entwickelte sie Programme zur Familienplanung. Rasch sanken die Geburtenraten. Inzwischen ist Südkorea zur siebtgrößten Exportnation aufgestiegen. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei mittlerweile mehr als 22.000 US-Dollar. Das asiatische Land ist damit ein Musterbeispiel, wie ein Land seine Demografische Dividende einfährt (s. Abb. 1).

Abb. 1: Zwischen 1960 und 2010 stieg in Südkorea der Anteil an Frauen mit einem mittleren oder höheren Schulabschluss kontinuierlich an. Nahezu zeitgleich sank dort die Zahl der Kinder. Parallel dazu erlebte das Land einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung. Dieses in vielen Ländern beobachtete Phänomen ist unter dem Begriff „Demografische Dividende“ bekannt. Quellen: IIASA-VID Dataset, World Development Indikators, Penn World Tables.

Dieser Begriff steht für den Effekt, dass in ehemals kinderreichen Ländern in Folge des Rückgangs der Geburtenraten oftmals ein wirtschaftlicher Aufschwung zu beobachten ist. Dem Modell zufolge kommt es durch die sinkende Kinderzahl zu einem temporären Anstieg des Anteils der erwerbstätigen Bevölkerung. Dieser produktive Teil der Gesellschaft hat in den folgenden Jahrzehnten weniger Kinder und alte Menschen zu versorgen, was wiederum in der Regel dazu führt, dass in dem Land mehr konsumiert und investiert wird. Das wiederum kurbelt die Wirtschaft an. Der Effekt der Demografischen Dividende hatte zur Folge, dass viele Regierungen, vor allem die der ärmeren Länder, Programme zur Geburtenkontrolle lancierten. 

Dem konventionellen Modell der Demografischen Dividende steht jedoch ein anderes gegenüber: das bildungsgesteuerte Modell (s. Abb. 2). Bei diesem gilt nicht die sinkende Geburtenrate als Auslöser für das Wirtschaftswachstum, sondern die Investition eines Staates in die Bildung seiner Bürger. Diese kommt der Wirtschaft nämlich auf zwei Wegen zugute. Zum einen wirkt sie sich positiv auf die Produktivität der Gesellschaft aus. Zum anderen ist schon lange wissenschaftlich erwiesen, dass gut ausgebildete Frauen weniger Kinder bekommen. Sie weisen ein besseres Verhütungswissen auf und zudem eine erhöhte Erwerbsneigung, die ebenfalls die Kinderzahl reduziert.In dem bildungsgesteuerten Modell macht demnach die Bildung einen (weiteren) Rückgang der Geburtenrate überhaupt erst möglich. 

Abb. 2: Das konventionelle Modell der Demografischen Dividende sieht den Geburtenrückgang als den entscheidenden Auslöser für das Wirtschaftswachstum eines Landes an. Das bildungsgesteuerte Modell, das durch die aktuelle Studie gestützt wird, betont hingegen den entscheidenden Einfluss der Bildung. Denn diese wirkt sich nicht nur positiv auf die Produktivität aus, sondern setzt den Geburtenrückgang überhaupt erst in Gang. Quellen: Popnet, IIASA. 

Eine Studie des Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital ist jetzt zu dem Schluss gekommen, dass das bildungsgesteuerte Modell der Wirklichkeit sehr viel näher kommt: In Ländern, wo zwar ein Rückgang der Geburtenrate, aber kein Anstieg des Bildungsniveaus zu beobachten war, sei das Wirtschaftswachstum sehr viel schwächer ausgefallen als in Ländern, die in die Bildung ihrer Bürger viel investiert hatten, berichtet das Team um Jesús Crespo Cuaresma in der Fachzeitschrift Demography. 

Um den Einfluss der beiden Faktoren – Geburtenrate und Bildung – getrennt voneinander untersuchen zu können und so möglichen Kausalzusammenhängen auf die Spur zu kommen, nutzten die Forscher aktuelle, nach Alter und Geschlecht aufgeschlüsselte Daten zu den Bildungsabschlüssen der Menschen in 105 Ländern weltweit. Diese hatten Wissenschaftler des International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA) und des Vienna Institute for Demography zuvor zusammengestellt. Auch die Geburtenziffern wurden für jedes der Länder erfasst. 

Das statistische Modell, das Crespo Cuaresma und seine Kollegen verwendeten, berücksichtigte den Einfluss des Humankapitals – also die Summe der wirtschaftlich nutzbaren Fähigkeiten, Kenntnisse und Verhaltensweisen der Erwerbsbevölkerung – sowohl auf die Arbeitsproduktivität als auch auf die sogenannte Totale Faktorproduktivität. Diese gibt an, welcher Teil des Produktionswachstums nicht auf den vermehrten Einsatz der Produktionsfaktoren, in der Regel Arbeit und Kapital, zurückgeführt werden kann, sondern als unerklärter Rest übrigbleibt. 

Ihre Analysen hätten gezeigt, dass der größte Anteil des ökonomischen Wachstums nicht, wie es das konventionelle Modell der Demografischen Dividende beschreibt, auf den Rückgang der Geburtenrate zurückzuführen sei, berichtet das Team um Crespo Cuaresma. Und würde man als Maß für das Wirtschaftswachstum nicht das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Einwohner, sondern das BIP pro Person in der Erwerbsbevölkerung heranziehen, ginge der Einfluss der sinkenden Kinderzahlen sogar nahezu auf Null zurück. 

„Um einen wirtschaftlichen Aufschwung zu erzielen, genügt es also nicht, einfach nur die Geburtenziffern zu reduzieren“, sagt Crespo Cuaresma. Die neue Studie zeige vielmehr, dass der bisher angenommene Zusammenhang zwischen sinkenden Geburtenziffern und wirtschaftlicher Entwicklung zum größten Teil als ein Effekt besserer Bildung erklärt werden könne. „Wenn das Bildungsniveau der jungen Erwachsenen steigt, hat das gleich zwei positive Effekte: Die Geburtenraten sinken und die Produktivität steigt.“ 

Dass das bildungsgesteuerte Modell der Demografischen Dividende realitätsnäher sei als das konventionelle Modell, sei für die Zukunftsaussichten der Länder sogar von Vorteil, meinen Crespo Cuaresma und seine Kollegen. Denn nach dem konventionellen Modell haben die Länder nur einen begrenzten Zeitraum zur Verfügung, um die Demografische Dividende einzufahren. 

Unternimmt ein Land keine Anstrengungen, um zeitgleich mit den sinkenden Geburtenraten neue Arbeitsplätze zu schaffen, kann aus der Demografischen Dividende schnell eine demografische Zeitbombe werden. „Mit der Zeit verändert sich die Altersstruktur des Landes ja wieder und irgendwann müssen sich dann wenige junge Menschen um viele Alte kümmern“, erklärt Crespo Cuaresma. „Ist die Produktivität des Landes jedoch aufgrund einer besseren Bildung gestiegen, sind die Chancen groß, dass der Effekt anhält, auch wenn die Bevölkerung älter wird.“ 

Tab. 1: Die Tabelle zeigt, dass der Einfluss der Bildung auf das jährliche Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens größer ist als der Einfluss der Altersstruktur. Ganz besonders gilt das für Entwicklungsländer. Dargestellt sind jeweils die Veränderungen von der Standardabweichung. Quelle: eigene Berechnungen.

„Unsere Erkenntnisse unterstreichen, wie wichtig Investitionen in allgemeine Bildung sind, wenn es darum geht, Länder aus der Armut zu holen“, betont auch der Ko-Autor der Studie, Wolfgang Lutz, der Leiter des Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital. Denn gerade in Entwicklungsländern ist der Einfluss der Bildung auf das jährliche Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens sehr viel größer als der Einfluss der Altersstruktur (s. Tab. 1). Auch Südkorea hätte ohne die getätigten Investitionen in Schulen und Unternehmen vermutlich kaum einen Weg aus der Armut gefunden.

Literatur

  • Crespo Cuaresma, J., Lutz, W., Sanderson, W.: Is the demographic dividend an education dividend? Demography 51(2014)1, 299-315.
    DOI: 10.1007/s13524- 013-0245-x

Aus Ausgabe 2014/2

Artikel

Infoletter

Der kostenlose Infoletter erscheint viermal jährlich und ist sowohl als elektronische wie auch als Druckversion erhältlich.